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Einführungsrede zur
Ausstellung „Études formelles: Gilles Gally und Ginny Munden “,
Maison de Bourgogne, Mainz, 22. Oktober 2009
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Sie vermuten richtig: dieses Mal schafft er es nicht, ein verbindendes Element zwischen den ausstellenden Künstlern zu finden und Ihnen mit einem überraschenden Gedanken eine Gemeinsamkeit der beiden offensichtlich extrem unterschiedlichen Arbeitsansätze aufzuzeigen. Ich habe es auch gar nicht erst versucht.
Der Titel über dieser Doppelausstellung: „Études formelles“, also sagen wir einmal: „Formstudien“, ist in dieser Hinsicht auch nicht besonders hilfreich, weil er so wahr und richtig ist, das man ihn über alle Kunstausstellungen der Welt schreiben könnte.
Nein, Sie sind hier einfach mit den Arbeiten von zwei Künstlern konfrontiert, deren Gemeinsamkeit sich in drei Aspekten erschöpft: in ihrer Heimat Burgund, in der Vermittlung durch das Künstlerzentrum CRANE und – das ist allerdings wichtig – in ihrer Qualität.
Betrachten wir die Ausstellung einfach als Menu in zwei Gängen, wobei ich mir erlaube, als Dessert noch das anschließende allseits geschätzte Beisammensein bei Wein und Häppchen dazuzurechnen, das amuse gueule wäre dann die charmante Begrüßung durch unsere Mélita, und meine kurzen Erläuterungen betrachten Sie bitte als „la carte“.
Gilles Gally und das Material des Bildhauers
Der erste Gang ist ein Fischgang, hätte ich beinahe gesagt, denn er wird im Aquarium serviert, jenem einzigartigen Glaskasten, den es nur hier im Haus Burgund gibt und der schon viele Künstler zu allerlei provokanten oder humorvollen Installationen herausgefordert hat.
Gilles Gally bevölkert die Vitrine mit seinen Objekten, Kreationen, Erfindungen, Wesen, Assemblagen, deren Zutaten er wirklich wie ein Sternekoch zusammensetzt, und das heißt: überraschende Kombination von einander zunächst fremden Materialien, die aus unterschiedlichen Quellen stammen. „Schwarze Boudin an Granatapfeljus“.... Denn, das sehen Sie sicher selbst, es sind fast ausschließlich gefundene Elemente, objets trouvées, die er benutzt.
Er greift also nicht in die vollen und verbraucht unendliches Rohmaterial, indem er z. B. einen Marmorblock bestellt, Bronze gießen lässt oder Stahlwerke beschäftigt, und er knetet auch nicht in Tonklumpen. Seine Kunst ist Recycling – bis auf zwei kleine Ausnahmen, die Sie hier sehen:
Da gibt es einen Holzblock auf Eisenrädern, und den hat er in der Tat selbst zugehauen. Er sei schließlich Bildhauer, und da müsse er sich auch einmal so gerieren, mit Hammer, Axt und Stechbeitel, vielleicht sogar der Kettensäge. Im Ergebnis schwingt dann wieder Ironie mit, denn was er da geschaffen hat, sieht aus wie ein Amboss, also ein Gegenstand, der normalerweise aus ganz anderem Material besteht, und so heißt das Ding dann auch: „L’enclume bleue“, der blaue Amboss.
Das andere Element, mit dem er die traditionelle Bildhauerei auf die Schippe nimmt, findet sich auf dem hohen Tisch im Zentrum: Ein Schädel, genauer: die Kalotte, ein Gipsabguss eines Schädels, wie er in den Akademien und Ateliers in früheren Zeiten als anatomisches Studienobjekt herumstand.
Kombination und Bedeutung
Hier – und jetzt kommen wir mal zu den Strukturen der Kombination, oder Komposition, wenn Sie so wollen – steht die Schädeldecke einem altertümlichen Maschinenteil gegenüber, so dass sich durch die Konfrontation sofort die Idee einer Konversation einstellt. Wir erleben die beiden Gegenstände menschlich, sehen in dem Metallobjekt fast ein Gesicht und vermuten einen Dialog zwischen Lebewesen. Und das kommt allein durch die Auswahl und Positionierung der Objekte durch den Künstler zustande.
Das Maschinenfragment, von dem übrigens auch Gilles Gally nicht genau weiß, wozu es diente, ist aus Bronze, wie man an der Patina erkennen kann. Auch das eine kleine Anspielung auf die klassischen Bildhauermaterialien.
Das Gespräch zwischen Gips und Bronze wird uns auf einem rostigen Eisentisch kredenzt, und wie viele Arbeiten der letzten Jahre, heißt das gesamte Werk auch so: „Table bleue“ – Blauer Tisch. Wenn man Gilles fragt, was er macht, sagt er „z. B. Tische“ – aber eben nicht wie ein Designer oder Kunstschlosser, sondern mit feinsinnigem Understatement in der Betitelung. Es gibt auch „Schubkarren“ oder eben den Amboss, einfach, weil die Dinger so aussehen, oder auch die Bürste, „La brosse“, die uns da mit ihren Zinken so offensiv entgegen rostet.
Die hat was von diesem Plastikkamm aus den 60er Jahren, der nannte sich, glaube ich „Igel“ und war unheimlich praktisch. Gilles Igel oder Bürste besteht aus den Zinken einer alten Egge und dem Deckel eines großen Topfes, in dem man auf dem Land z. B. die Kartoffelschalen für das Schweinefutter abkocht.
Überhaupt die heimische Landwirtschaft, die liefert so manche Zutat für den Künstler: Diese großen linsenförmigen Schalen mit dem gewellten Rand, die Sie an den beiden liegenden Objekten sehen, stammen von einem Gerät, das man „Ackerwalze“ nennt, habe ich mir zumindest aus unserem Gespräch zusammengereimt, also einer Art Zerkleinerungsmaschine, mit der man hinter dem Pflug über den Acker geht, um die groben Schollen wieder zu zerbröseln und einzuebnen. Falls hier jemand das besser weiß, mag er mich korrigieren.
Gilles Gally stöbert also auf den Schrottplätzen und lässt sich inspirieren, verfolgt eine Idee – experimentiert, probiert aus, insofern vielleicht wirklich „Formstudien“ – und schafft dann Objekte, die plötzlich eigenes Leben, eigene Gesichter, eigenen Charakter gewinnen.
Der Assoziationen sind viele möglich und auch gewünscht: Ob die flache Schale in Stehtischhöhe Sie an eine Vogeltränke oder ein Tauf- oder Weihwasserbecken erinnert, die Zapfen an der Unterseite vielleicht an das Euter einer Kuh, warum nicht? Und dann bemerken Sie, dass die Schale in der Mitte ein Loch hat und alles, was man hineinschütten mag, sofort wieder herausfließt, vielleicht durch die Zapfen gelenkt in vier, fünf fadendünnen Strahlen? Wer weiß? Und ob es Wasser oder Milch sein könnte? Gilles hasst Milch.
Wir fantasieren bei diesem fremdartigen Gebilde auf unserem Hors-d’oeuvre-Teller schon in eine neue Richtung: Die Objekte erwecken den Eindruck der Benutzbarkeit, man könnte etwas mit ihnen machen, sie einer Bestimmung zuführen. Und irgendwann wurden ihre Bestandteile ja auch einmal benutzt, haben also eine Geschichte, die etwas mit Arbeit und menschlichen Händen zu tun hat. Viele Generationen in Gilles Familie, bis hin zu seinem Vater, übten übrigens das Schmiedehandwerk aus.
Noch einmal zurück zu dem blauen Amboss: Der hat ja Räder und eine Deichsel, den kann man wie ein Wägelchen an die Hand nehmen und hinter sich herziehen. Und man kann sich auch draufsetzen nach langem Weg, zur Rast und Erholung.
Das alles steckt drin in den Objekten, da klingt also eine ganz neue Welt von Ideen und kleinen Fantasien an, ausgelöst durch die Technik der Kombination.
Seit Jahren fasziniert mich ein Satz von Max Ernst, mit dem er 1962 die Collage definiert hat, jetzt kann ich ihn endlich einmal benutzen, und ich glaube, er trifft auch auf Gilles Gally zu:
„Collage ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene – und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.“
Das lassen wir uns noch auf der Zunge zergehen, bevor uns der nächste Gang serviert wird: Ginny Munden mit ihren „Water portraits“.
Ginny Munden und das Wesen des Porträts
Manchmal haben die Mainzer ja großes Glück, so konnten Sie andere Arbeiten dieser Fotokünstlerin bereits vor einem guten Monat schon einmal sehen, nämlich am Kunstwochenende „...3xklingeln!“ [habe noch Katalogmagazine mitgebracht]. Das war ein Zufall, aber auch wieder nicht, denn gute Kunst wird immer irgendwann entdeckt, und dann meistens von mehreren gleichzeitig.
Ginny Munden zeigt uns ihre „Water portraits“. Porträts? Da erwarten wir doch die Bilder von Individuen mit möglichst genauem Blick, der Wiedergabe von Details der Abgebildeten, womöglich sogar die Aufdeckung verborgener Züge und auch so etwas wie Wiedererkennbarkeit. Die Porträtierten sollen „gut getroffen“ sein, wie man sagt, und in diesem Ausdruck klingt sowohl die Assoziation ans Schießen mit, wie ja beim Fotografieren überhaupt, und auch das Blitzartige, die Momentaufnahme.
In ihrem gesamten Werk scheint die Künstlerin aber genau das vermeiden zu wollen, und das Erstaunliche ist: sie verliert damit nicht das Wesentliche, sondern gewinnt Dimensionen hinzu.
Was ist passiert: eigentlich etwas ganz Einfaches. Es werden Wasserspiegelungen fotografiert, die Spiegelbilder von Personen am gegenüberliegenden Ufer, in Tümpeln, Bächen, Seen oder auch am Meer, und dann wird das Bild gedreht, so dass die Figuren wieder aufrecht stehen. Zwar mit hochauflösender Digitalkamera fotografiert, aber ohne jede Bearbeitung am Computer, ohne alle Tricks, und auch nicht etwa mehrfach belichtet.
Die Effekte sind verblüffend. Nicht nur, dass sich eine malerische Anmutung einstellt, sondern es fehlt plötzlich jede Orientierung im Raum. Unser eigener Standpunkt geht verloren, es fällt schwer, die Distanz zum Bild und seinen Ebene einzuschätzen, die Tiefenschichten verschwimmen, man weiß nicht mehr, was sich vorn oder hinten, nah oder fern, an der Oberfläche und in der Tiefe befindet.
Irritierend dazu die wenigen detailscharfen Elemente, z. B. auf dem Wasserspiegel schwimmende Blätter. Als die großen Arbeiten hier noch am Boden lagen, sah Frau Soost plötzlich einen Zweig auf einem der Fotos liegen und dachte, er sei hereingeweht, aber als sie ihn wegnehmen wollte, griff sie ins Leere, er war Teil der Fotografie.
Ja, und sind das nun Porträts? Ich meine: vielleicht sind solche Fotos sogar die ehrlicheren, die realistischeren Abbildungen von Menschen, denn sie enthalten all das, was sonst immer ausgeblendet und vermieden werden soll: alles Zufällige, Störende, den Blick Verschleiernde.
Im Alltag sehen wir täglich Tausende von Menschen auf diese Weise: Hinter Autofenstern in voller Fahrt, in Fußgängerzonen an uns vorbeihuschend, in Schaufenstern gespiegelt, nur im Augenwinkel auftauchend, so dass wir kaum einen wirklich erkennen, geschweige denn wiedererkennen würden, und demgegenüber eigentlich nur wenige bekannte Gesichter, mit denen wir ausführlicher zu tun haben.
Vergänglichkeit
Der Titel der großen Arbeiten spielt auf dieses Phänomen an. Ginny Munden nennt sie „Travellers“, also Reisende. Sie sind – wie wir alle – in ständiger Bewegung, wir erhaschen nur einen flüchtigen unscharfen Blick, der im nächsten Moment wieder zerfällt, verschwimmt und sich auflöst, wenn unser Gegenüber sich entfernt, wenn wir weitergehen, und natürlich, wenn die Natur sich rührt. Ein Windstoß, ein vorbeischwimmender Ast, ein fallendes Blatt reichen aus, und das Bild verschwindet.
Und da kommt ein weiteres Element hinzu, das wir nicht vergessen dürfen: Die Künstlerin sucht sich keine Swimming Pools, künstliche Seen oder Brunnen in Fußgängerzonen aus, um ihre Modelle zu spiegeln, sondern es ist die reine Natur, in die sie eingebettet werden und aus der sie schemenhaft herausschauen. Die Menschen sind mit der sie umgebenden Natur verwoben, werden Teil von ihr und vergehen auch mit ihr wie alles Organische.
Wir haben hier also wirkliche Vanitasbilder vor uns, Anspielungen auf die Vergänglichkeit des Lebens, ein ganz altes kunstgeschichtliches Genre. Und sogar klassische Symbole finden wir wieder: das Spiegelbild, das ja nur ein virtuelles Bild ist und nicht existiert, „leer“ ist, wenn wir nicht hinsehen, und die blühende, kraftvolle Vegetation, von der wir wissen, dass sie bald verwelkt, beides immer schon als Vanitassymbol in der Kunst benutzt.
Da drüben bei Gilles gibt es übrigens auch ein Vanitassymbol: den Schädel. Haben wir jetzt doch ein verbindendes Element gefunden? Wenn Sie wollen, könnten Sie jetzt über die Spuren des Alters und des Verfalls in den Materialien des Bildhauers nachsinnen.
Aber zurück zur Fotografin: Es ist natürlich nicht so, dass Ginny Munden sich im Gebüsch auf die Lauer legt und wartet, bis auf der anderen Seite des Tümpels einer vorbeigeht. Die Fotos sind gestellt, und solche Sessions dauern manchmal ziemlich lange. Bis zu 40, 50 Fotos macht die Künstlerin von jedem Motiv, und Sie können sich vorstellen, dass keines dem anderen gleicht, da die Natur auch bei Windstille in ständiger Bewegung ist. Aufwändige Anweisungen gibt sie ihren Modellen nicht, Haltung und Gestik entwickeln sich spontan.
Ich möchte noch kurz auf andere Arbeiten von Ginny Munden hinweisen, die hier jetzt nicht zu sehen sind aber vor 5 Wochen in unserer Neustadt-Biennale gezeigt wurden. Es sind wiederum Porträts, in diesem Fall aber im Studio entstanden. Dabei hat die Künstlerin mit langen Belichtungszeiten gearbeitet, wodurch Bewegungsunschärfe entsteht und die Gesichtszüge der Individuen verschwimmen. Es ging also nicht um das Einfangen eines Sekundenbruchteils, sondern um das Gegenteil: den Versuch, eine Zeitspanne festzuhalten.
Sie kennen das alle: Da macht einer einen Schnappschuss von Ihnen, und Sie sind entsetzt: „So sehe ich nicht aus.“ Das stimmt auch: So sehen wir nicht aus. Auch wenn, wie man glaubt, die Fotografie nicht lügt, die Wahrheit eröffnet sich eben nicht in einem einzigen Augenblick. Ob sie sich im Spiel mit der Zeit offenbart, ist eine Ausgangsfrage des künstlerischen Experiments.
Jemand hat angesichts dieser Porträts sinniert: „Die fotografierten Personen sind nicht mehr da. Ist die Blende zu lange offen geblieben oder das Leben zu schnell vorüber gegangen? Soeben noch fotografiert und schon im Prozess der Auflösung wie das verrinnende Leben. Sind wir noch da oder nicht? Ganz oder nur zum Teil? Was ist gegenwärtig, was lebendig?“