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Einführungsrede zur
Ausstellung „Carlos Castillo: Intra-muros“,
Maison de Bourgogne, Mainz, 15. Januar 2009
Meine Damen und Herren, wo sind wir hier eigentlich?
Carlos Castillo stellt diese Frage ständig, an jedem Ausstellungsort, und er beantwortet sie sachlich-kühl mit den genauen geografischen Koordinaten des Gebäudes, in dem wir uns gerade befinden: 50 Grad und 2 Minuten, 14 Sekunden nördlicher Breite (N 50° 02' 14'').
Die Position des Hauses Burgund in Grad, Minuten und Sekunden ist eine Orientierungshilfe, aber schon theoretisch die Vortäuschung der Exaktheit. Denn erstens: Wo ist denn hier der Mittelpunkt des Hauses (abgesehen natürlich von Mélita Soost, die neben mir steht), aber wo ist er rein geografisch?
Zweitens: Nehmen wir an, wir würden uns auf einen Punkt einigen, den da zum Beispiel, wie dokumentieren, wie bezeichnen wir ihn? Etwa so: [setzt Punkt mit dickem Filzstift auf den Fußboden] Schon mit bloßem Auge sehen wir, dass das kein Punkt ist, sondern eine Fläche. Ein Punkt aber, so lehrt die Geometrie, ist ein nichtausgedehnter Ort in einem beliebigen Raum. Wir müssen also exakter werden. Ein dünner Bleistift vielleicht. Aber sobald wir eine Lupe anlegen, wird auch dieser Punkt wieder zur Fläche – hat also immer noch eine Ausdehnung.
Sie können das in Gedanken fortsetzen bis in mikroskopisch kleinste Punkte, die dennoch immer wieder Flächen sind. Wir werden dabei zwar immer exakter, und unsere Punkte sind nur noch mit vielen Stellen hinter dem Komma beschreibbar, aber wir kommen nie zum Punkt. Ein Punkt tendiert zum Nichts, ist lediglich ein Modell. Es gibt ihn konkret nicht.
Wo genau, an welchem Punkt der Erde – wollen wir uns mal darauf beschränken – befinden wir uns also?
Dies ist die von Carlos Castillo in den Raum geworfene Frage, nicht mehr und nicht weniger.
Dass sich damit metaphern- und assoziationsreich unzählige weitere Fragen verbinden, spüren Sie bereits. Auch im Zeitalter des Navi sollte man schon wissen, wo man ist.
Aber zunächst noch einmal zum geografischen Koordinatensystem, denn dieses ist im Werk des Künstlers allgegenwärtig. Die Ortsbestimmung erfolgt in zwei Dimensionen, Längen- und Breitengraden.
Beschränken wir uns mal auf die Breitengrade, die sind einfacher. Der Äquator ist bei unserer kugeligen Erde die Nulllinie. Und jetzt wird einfach mit jedem Schritt nach Norden, also auf den Nordpol zu, der Winkel zum angenommenen Erdmittelpunkt gemessen. Irgendwann erreicht man dann z. B. den 50sten Breitengrad, und auf dem liegt bekanntlich Mainz, ebenso wie z. B. die Weinlage Schloss Johannisberg, Wittlich in der Moseleifel, Lizzard Point in Südengland, Portage la Prairie in Kanada, Ulan-Gom in der Mongolei, Kharko in der Ukraine und so weiter.
Wie stellt man aber fest, auf welchem Breitengrad man sich befindet? Dabei hilft der Polarstern, der steht nämlich ziemlich genau in der Fortsetzung der Erdachse.
Nun weiß der Mainzer eigentlich immer, wo er ist. Aber falls mal nicht, hilft die Seenavigation.
Also: Wenn wir bei sternklarer Nacht auf dieser goldenen Linie des 50sten Breitengrads im Zentrum von unserem goldigen Meenz stehen, dann genau gen Norden sehen und uns den Horizont vorstellen – natürlich steht da noch ein Theater und allerlei „Gelerch“ dazwischen – dann ist die Distanz vom Horizont zum Polarstern genau 50 Grad. So geht das, seit alters her. Das können Sie zuhause am Globus ausprobieren. Und so kann man sich in Mainz orientieren, in sternklarer Nacht, auch wenn man sternhagel..., egal.
Hier und heute Abend sind wir ziemlich genau nördlich des Gutenbergplatzes, und zwar 2 Bogenminuten und 14 Bogensekunden, d. h. also über 4 km vom 50sten Breitengrad entfernt. Sie merken, dass da etwas nicht stimmt, entweder die Messung des Künstlers oder die Markierung des Breitengrads auf dem Gutenbergplatz. Ich denke, das zweite ist der Fall.
Dabei sei eben erwähnt, dass ein Grad in der Breitenangabe 111 km umfasst. Ein Grad hat 60 Bogenminuten, eine Bogenminute umfasst etwa 1,85 km, d. h. eine Seemeile. Eine Bogenminute hat 60 Bogensekunden, eine Bogensekunde entspricht etwa 31 Metern. Weitere Unterteilungen, auch in Dezimalform, werden natürlich vorgenommen.
Wenn Carlos Castillo uns hier in diesem hause also mit 50° 02' 14'' nördlicher Breite verortet, hat das doch immerhin eine Ungenauigkeit von plus minus 31 Metern.
So, das war der Grundkurs in Navigation. Und wir haben bisher auch nur über diese paar Ziffern und Zeichen gesprochen.
Bewegungsprofile
Nun kann man mit diesen Koordinaten natürlich auch Bewegungen oder Wege beschreiben, das heißt das Fahren oder Wandern oder Schippern vom einen Punkt zum anderen. Carlos Castillo hat dies mal für den Lauf des Rheins getan, von der Quelle bis zur Mündung, vor zwei Jahren in einer Ausstellung für das partnerschaftliche Gegenstück des Maison de Bourgogne, nämlich das Rheinland-Pfalz-Haus in Dijon. Und er hat auch heute einen symbolträchtigen Weg auf diese Weise beschrieben, nämlich die Strecke von Dijon, wo er lebt und arbeitet, bis zur Partnerstadt Mainz, in diesen Ausstellungsort hier. Das Dokument dieser Reise, sozusagen ein Logbuch, sehen Sie dort.
Nehmen wir einmal an, nicht Sie selbst, so wie der Künstler, notieren mit elektronischer Hilfe Ihre Wege, sondern der große Bruder in Form des BKA macht es für Sie, per Satellitenortung Ihres Handys und natürlich sehr viel exakter als mit dieser 31-Meter-Ungenauigkeit, und schon erhalten wir ein perfektes Bewegungsprofil einschließlich Tank- und Pinkelpausen. Auch das ist eine Antwort auf die Frage: Wo befinden wir uns eigentlich?
Wenn ein Baum, ein Dorf, ein Haus, ein Mensch von der Erde verschwindet, bleiben von ihm nur die Koordinaten, so könnte man sagen (man kann es auch anders sehen). Carlos Castillo hat Koordinaten festgehalten, kalt, mechanisch, exakt und erbarmungslos. Koordinaten von ökologischen, menschlichen, politischen Katastrophen. Ich spreche von der Arbeit mit dem lakonischen Titel „13 Orte auf der Welt“ im großen Schaufenster dieses Hauses, eine Auswahl aus der älteren Serie mit 35 Orten von 2007.
Die Havarie von Supertankern, mit Tausenden Litern von auslaufendem Schweröl, Erdbeben mit unzähligen Opfern, Explosionen, Nuklearkatastrophen, Bürgerkriege, Massaker, all das ohne Bilder, ohne Berichte von Opfern, ohne journalistisches Futter, einfach nur dokumentiert durch den exakt bestimmten Ort des Geschehens. Neutral in Ziffern geschnitten, aufgereiht zu einer Liste des Todes.
Die Negation des Emotionalen, Episodischen, Bildhaften erzeugt vielleicht das größere Grauen. Man mag an das Holocaust-Denkmal in Berlin denken.
Orte also werden mit Geschichte beladen, sie sind mit Geschichte beladen, tragen ihr Päckchen für alle Zeit, sofern man sie identifiziert, sich an sie erinnert, sie bezeichnet.
Carlos Castillo entwirft keine Monumente, entzieht sich jeder lokalen Vereinnahmung. Die globalen Katastrophen brauchen keine Bronzetafeln vor Ort, zu denen man hinpilgern und an denen man Kränze ablegen kann. Die Mobilität des Memento ist das Prinzip. Mit leichtem, billigem und unprätentiösem Material – Holz, Farbe, Klebebuchstaben – und der denkbar zurückhaltendsten Ästhetik werden Gedanken provoziert, dort, wo die Arbeiten eben gerade zu sehen sind.
Und so entsteht eine geografisch-gedankliche Beziehung zwischen den Breiten- und Längengraden, Linien werden gezogen von dem „Wir-hier-jetzt“ zu dem „Die-damals-dort“. Im Koordinatennetz sind wir alle gefangen, die Distanz zum Schrecken ist exakt berechenbar. Nichts passiert außerhalb unserer eigenen Welt, es geht nur um graduelle Differenzen in einigen Ziffern.
Politische Verortungen
Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass Carlos Castillo selbst im Alter von zehn Jahren ein schweres Erdbeben in seinem Heimatland Nicaragua erlebt und überlebt hat. Die wechselvolle politische Geschichte Lateinamerikas im 20sten Jahrhundert ist als Hintergrund seines Werkes ebenfalls nicht zu übersehen. Auf 33 Grad, 25 Minuten und 11 Sekunden südlicher Breite und 70 Grad, 41 Minuten und 22 Sekunden westlicher Länge liegt Santiago de Chile.
Womit wir letztlich doch bei etwas sehr Konkretem landen, nämlich bei der Arbeit, die Sie alle mit Sicherheit beim Betreten der Ausstellung deutlich erschreckt hat. Diese Politiker-Fotos mit darüber gesetzten Zielscheiben, die speziell für die Mainzer Ausstellung entstanden, haben auch mich zunächst überrascht. Auch wenn Castillo bisweilen mit malerischen Mitteln arbeitet und dies mit Konzeptkunst verbindet – auch dafür haben wir hier Beispiele – so deutlich, so abbildhaft, so direkt war er bisher nicht. Den politisch-gesellschaftlichen Aspekt seiner Arbeit habe ich herausgestellt, plakative Propaganda war das nie.
Und jetzt Politiker als Zielscheiben? Lassen wir uns nicht durch die Oberfläche täuschen! Versuchen wir, die Bilder als aggressiven Akt oder Aufforderung zur Gewalt zu interpretieren, merken wir schnell, dass sich daraus kein terroristisches Gedankengut konstruieren lässt. Eine derartige Mischung historischer und aktueller politischer Ausrichtungen aller Art kann selbst dem größten Chaoten unter allen Anarchisten nicht zur Konstruktion eines Feindbildes gereichen. Schießt auf alle internationalen politischen Führer? So einfach wird und kann die Botschaft nicht sein.
Zugegeben, ein Unbehagen bleibt, stellen wir uns John F. Kennedy im Zielfernrohr vor und denken uns noch Barack Obama dazu. Eine schreckliche Vision, die uns hoffentlich erspart bleibt.
Oder will Castillo uns in die Rolle der Attentäter unterschiedlichster Couleur versetzen? Unter dem Motto: Ob Links oder Rechts, irgendeinen Erzfeind hast Du immer, der zur Waffe greifen möchte und dies auch tut? Jeder suche sich seine Zielperson?
Ich glaube, bei aller oberflächlich provokativen Aggressivität der Arbeit ist sie doch zu einem guten Teil wieder eine Ortsbestimmung. Der Titel „Links – Rechts“ weist eigentlich die Richtung (entschuldigen Sie bitte das Bonmot): Statt der geografischen Koordinaten sind wir plötzlich auf politische verwiesen. Richtungsangaben, Verortungen, Positionsbestimmungen bergen jetzt, bei dieser Versammlung von Köpfen und mit unserem heutigen Bewusstsein einen noch viel größeren Unsicherheitsfaktor als die 31 Meter Abstand der Bogensekunden. Wer und wo ist rechts und wer und wo ist links? Das ist doch genau die Frage des Tages – sofern sich überhaupt noch jemand für Zielbestimmungen interessiert.
Nehmen wir die Zielscheiben mal als Hilfsmittel zur genaueren Positionsbestimmung. Und den Werktitel als Frage. Wir sind hier, und wo bist Du, Thatcher, Kennedy, Stalin, Obama, Pinochet usw.? Offenbar arbeitet Castillo an einem neuen Koordinatensystem.
Aber um Orte geht es nach wie vor, ob geografisch oder politisch. Und wenn Sie wollen, können Sie von hier, den Fotos, den politischen Protagonisten und ihren Wirkungsstätten, wieder Verbindungen ziehen zu den Orten draußen im Glaskasten. Eigentlich ein Rätselspiel, eine Aufgabe für Sie. Einfach ist z. B. Pinochet und Santiago als Ort des Militärputsches. Alles weitere wird schwierig, aber kann Sie politisch beflügeln. Zum Beispiel Stalin und Tankerhavarien: Haben nichts miteinander zu tun? Denken Sie mal an Putin und Gas als verbindende Elemente, da fällt einem schon manches ein.
Nun gut, Denkarbeit wartet auf Sie in auseichendem Maße.
Am Anfang war der Punkt, oder?
Archimedes, der Theoretiker der Hebelwirkung und damit der Begründer der gesamten Ingenieurkunst, soll so etwa gesagt haben: „Gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln.“
Ihm war klar, dass es diesen festen Punkt nicht gibt, niemals geben kann, auch nicht außerhalb unseres Weltsystems, und er hat mit dieser Überzeugung letztlich bereits eine Grundlage für die Aufklärung gelegt und geradezu kosmologische Fragestellungen eröffnet.
Archimedes wurde in seiner Heimatstadt Syrakus auf Sizilien im Jahre 212 v. u. Z. während des zweiten punischen Krieges von einem römischen Soldaten überrascht. „Noli turbare circulos meos“ – „Störe meine Kreise nicht“ – soll er gesagt haben, als der Legionär auf ihn zutrat und einen Schatten auf die in den Sand gezeichneten geometrischen Skizzen des Archimedes warf. Das waren seine letzten Worte. So starb ein unbewaffneter, ehrwürdiger 75-jähriger Geometer.
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Ich danke Ihnen.