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Einführungsrede zur Ausstellung „De l’ange au lion – Bilder von Zhu Hong“,
Maison de Bourgogne, Mainz, 26. August 2010
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Ausbildung
wenn Sie in Shanghai, Beijing, Hangzhou oder Guangzhou Buchläden oder auch Geschäfte für Künstlerbedarf besuchen, die sich natürlich häufig in direkter Nachbarschaft von Kunstakademien befinden oder sogar auf dem Campus selbst, dann finden Sie im Angebot eine unendliche Menge von Büchern und Heften aus einer Sparte, die es bei uns nicht gibt: Ich möchte sie einmal Vorlagenbücher nennen, Bildbände, häufig in einer miesen Druckqualität und zu niedrigem Preis, in denen einfach nur Werke aus der vor allem westlichen Kunstgeschichte reproduziert sind, fast ohne Text, aber häufig sehr großformatig und in vielen Detailausschnitten. Diese Druckwerke dienen den Kunststudenten als Vorlagen für eigene Studien. Sie werden regelrecht abgemalt, kopiert.
Wenn Sie dann eine dieser Akademien betreten, glauben Sie sich in einem Schulgebäude, denn beim Wandern durch die langen Gänge lesen Sie an den Türen Schilder wie „Drittes Studienjahr Ölmalerei“ oder „Zweites Studienjahr Chinesische Malerei“. Es sind also offenbar Klassenzimmer wie damals in der Schule, und zwar sauber getrennt nach Sparte und Jahrgang.
Wenn Sie dann einen dieser Räume betreten, fühlen Sie sich wirklich wie in einem Klassenzimmer. Viel größer ist der Raum nicht, und es drängen sich darin 20 oder mehr Studierende samt Staffeleien, Stühlen und Tischchen für Farben, Pinsel und Tee. Und wenn Sie vielleicht erst um 9 oder 10 Uhr vormittags kommen, sind die Studenten schon seit zwei, drei Stunden bei der Arbeit.
Was arbeiten die denn gerade? Und da erleben Sie die nächste Überraschung: Alle machen das Gleiche. Dies wäre nun, wenn gerade ein Akt- oder Porträtmodell in der Mitte sitzt, nicht anders zu erwarten, aber es kann auch sein, dass jeder junge Künstler eines dieser erwähnten Vorlagenbücher auf dem Tisch liegen hat, oder es klemmt eine davon herausgerissene Seite oder eine Postkarte an der Staffelei, deren klassisches Motiv penibel kopiert wird. Gut, der eine hat sich vielleicht die Hände der Mona Lisa ausgesucht, und der andere den Bacchus des Caravaggio oder einen Niederländer.
Und dann gibt es noch die Gipsi Figuri: zigtausendfache Abgüsse der antiken griechischen und römischen Bildhauerei, entweder in eben genannten Geschäften billig zu erwerben oder in der entsprechenden Sammlung der Akademie. Die werden dann im Klassenverband gezeichnet oder nachgearbeitet.
In den Klassen für chinesische Malerei, also Tuschemalerei, übrigens noch einmal streng unterschieden in die Klassen für Landschaft, für Tiere oder für Pflanzen, sehen wir die Studenten an Pulten sitzen, vor ihnen hinter Glas ein chinesisches Rollenbild im Original, das sie 1 zu 1 nachahmen. Eine Studentin zeigte uns einmal eine Federzeichnung, gerollt und etwa 5 Meter lang in der Breite, die den Einzug eines Kaisers mit seinem Gefolge in die Stadt darstellte, die Kopie eines einige Hundert Jahre alten Werkes, an dessen zahllosen Figuren sie mehrere Monate gearbeitet hatte. Ihr berechtigter Stolz bezog sich darauf, der Vorlage des Meisters sehr nahe gekommen zu sein.
Chinesische Akademien
Warum ich Ihnen das erzähle? Weil unsere Künstlerin Zhu Hong durch genau so eine Ausbildung gegangen ist, an der Kunstakademie in Shanghai, bevor sie dann in Dijon noch einmal studiert hat. Und weil das nicht spurlos an ihr vorübergegangen ist, sondern einige Grundlagen ihrer Arbeit beleuchtet.
Was uns, zumindest wenn wir den heutigen Betrieb und die aktuellen Ausbildungskonzepte an deutschen Kunsthochschulen kennen, wie ein exotisches Überbleibsel der Kolonisierung im Sinne westlicher Bildungsideale des 19. Jahrhunderts erscheint, hat in einigen Aspekten lange chinesische Tradition. Z. B. das Nachahmen und Kopieren kanonisierter Meisterwerke, so lange, bis der Schüler dem Meister handwerklich nahe kommt. Unsere Vorstellung von Individualität, vor allem im Bereich des Kreativen, ist hier fremd.
Kleine Nebenbemerkung: Wenn man zu diesem traditionellen chinesischen Denken noch das kommunistische Konzept des Volkseigentums, auch des geistigen, addiert, kann es nicht verwundern, dass Begriffe wie Urheberrecht, Patente, Musterschutz, Raubkopie in China völlig anders gesehen werden. Aber das nur nebenbei.
Ich benutzte eben das Wort „handwerklich“. Und die handwerkliche Seite der Kunst spielt, wie Sie sich denken können, bei der Ausbildung in China eine weitaus größere Rolle als hierzulande. Ob das gut oder schlecht ist, darüber kann man lange diskutieren. Spürbar ist es schon, auch im Werk von Zhu Hong.
Alle chinesischen Künstler haben die hier nur kurz skizzierte Form der Ausbildung hinter sich, und jeder, der z. B. Ölmalerei studiert hat, hat auch noch irgendwo das eine oder andere realistische Bauern- oder Arbeiterporträt stehen.
Dennoch ist die chinesische Kunstszene eine der spannendsten unserer Zeit, wie seit Jahren viele große Ausstellungen in Europa beweisen, vom gehypten Kunstmarkt ganz zu schweigen. Das haben sogar Galeristen in Mainz und Wiesbaden bemerkt.
Was, kurz gefasst, bei den jungen Künstlern Chinas passiert, ist, dass sie sich nach der mühsamen Absolvierung des verstaubten Ausbildungssystems sofort anders orientieren, und zwar hauptsächlich an den internationalen, sprich: westlichen Tendenzen.
Und es gibt unter Chinas Künstlern ein geradezu gieriges Interesse an westlicher aktueller Kunst. Bei jedem meiner Lehraufträge dort habe ich das dankbar erfahren, ebenso, wie es mich gefordert hat. Da hören einem die Studenten jedenfalls zu.
Wie gehen die jungen Künstler nun mit diesen sehr unterschiedlichen Erfahrungen um? Mit der extrem traditionell gebundenen Ausbildung einerseits und dem Aufsaugen alles Westlichen andererseits, das als innovativ, up to date und nicht zuletzt als lukrativ angesehen wird?
Die Antwort bestünde in einem mehrstündigen Vortrag über die aktuelle Kunstszene in China. Das machen wir ein andermal.
Von der Kopie zur Paraphrase
Eine Tendenz aber, die ich persönlich für die spannendste und interessanteste in der aktuellen Kunst aus China halte, und damit kommen wir auch gleich auf unsere Zhu Hong, will ich herausstellen. Umschreiben kann man sie mit Begriffen wie Zitat, Paraphrase, Reflexion, Kommentar, Parodie oder Ironie.
Es geht also nicht darum, die erlernten Formen und Arbeitsmethoden einfach über Bord zu werfen, um etwas völlig Neues zu machen, sondern sie weiterzuverarbeiten, sie zu kommentieren, ironisch zu zitieren, und dabei immer einen Schritt über sie hinaus zu gehen, sozusagen von höherer Warte auf sie herabzublicken.
Zhu Hong hat sich nicht mit den Vorlagenbüchern begnügt. Sie hat an ihnen das Malen gelernt (ein Stück weit, zumindest), aber sie wollte zu den Originalen. Sie wollte, wie viele junge Chinesen, nah an das heran, was sie interessierte. Und dafür kam sie nach Europa, in die Museen, auf das Terroir, möchte ich fast sagen, auf dem das gewachsen ist, was auch im heutigen China als Hauptlinie in der Jahrhunderte langen Entwicklung der Malerei verstanden wird, Eurozentrismus hin oder her.
Die junge Künstlerin will aber nicht einfach weiter kopieren, um etwa ein kleiner Rembrandt zu werden. Nein, sie tritt einen Schritt zurück, beobachtet sich selbst, wie sie vor die Bilder tritt. Und macht genau das zu Thema. Es geht nicht mehr darum, was sie sieht, sondern wie sie es sieht.
Gemälde, die mit einer kaum noch zu tragenden Last von Bedeutung und Geschichte beladen sind, werden auf ihr derzeitiges Leben zurückgeführt, ihre teilweise erbärmliche Existenz in den Tempeln der Kunst. Sie kennen das alle: „Ach, die Mona Lisa ist so klein, und hinter Glas, und außerdem stehen tausend Leute davor herum, und die blöde Beleuchtung, und brüchig ist die Leinwand auch noch“ und so weiter. Das hatte ich mir ganz anders vorgestellt.
Zhu Hong hat nicht die Mona Lisa abgebildet, aber manches andere Gemälde aus den zahlreichen europäischen Museen, die sie besucht hat. Man findet Mantegna, Botticelli, Caravaggio, van der Weyden, Dürer, van Eyck und so weiter.
Irgendwann geht es aber gar nicht mehr um die Namen und Motive. Das Thema der Malerin ist das Schicksal der Bilder an sich und die Sichtbarmachung all der visuellen Nebensächlichkeiten, die auch da sind und die wir versuchen, aus dem Blick zu verdrängen: Schatten, Reflexe, der Besucher vor uns, der Rahmen, das Krakelee aufgesprungener Farbschichten, die Wand hinter dem Werk und so fort. All das bildet sie mit gleicher Aufmerksamkeit ab.
Bei diesem bewusst fremden Blick hilft Zhu Hong der tatsächlich etwas fremdere Blick als Zugereiste aus fernem Land. Diesen Moment der ersten Begegnung mit Werken, die sie lange aus Abbildungen kennt, weiß sie zu konservieren, und was sie mit großen Augen aufnimmt, fließt in die Bilder ein. Wenn Sie einmal mit einem Kind im Museum waren, wissen Sie, was es da alles zu sehen gibt jenseits der 1000 Meisterwerke, auf die wir uns zu konzentrieren gelernt haben.
Was die Malerin da in ihren Bildern sagt, könnte man als indirekte Rede bezeichnen, und vielleicht hilft Ihnen die Metapher. Sie sagt nicht „Der Ball ist rund“, sondern sie sagt „Es hat jemand gesagt, der Ball sei rund“. Verstehen Sie die Parallele?
Das Bild vom Bild vom Bild
Und jetzt geht es noch weiter: Die Reproduktion selbst, das gedruckte Abbild, wird auch zum Bildthema, und hier wirken wieder der Zahn der Zeit oder alle möglichen Störfaktoren: schlechte Druckqualität, falsche Farben, Ausbleichen der Abbildungen, Verfärbungen des Papiers, oder das Papier ist sogar zerknittert.
Um in unserem Vergleich zu bleiben, also noch einen Schritt zurück: „Ich habe gehört, es soll jemand gesagt haben, der Ball sei rund“.
Mein Gott, wie kompliziert nun wieder. Nein, ist es gar nicht. Ganz konkret: Stellen Sie sich vor, Sie fotografieren im Mainzer Landesmuseum ein Gemälde, mit Leuten drumherum und ganz amateurhaft. Das ausgedruckte Foto zerknüllen Sie, glätten es dann wieder, und dann malen sie es, genau so wie es daliegt. Dann haben Sie ein Bild vom Bild vom Bild. Und eine ganze Geschichte noch dazu.
Das können Sie natürlich nicht. Da kommt dann wieder das Handwerk ins Spiel.
Noch eine Parallele zur Verdeutlichung. Vielleicht erinnern sich noch manche an den Fotorealismus Anfang der siebziger Jahre, documenta 5, 1972. Es ging bei den Malern dieser Richtung nicht darum, so realistisch zu malen wie ein Foto – als ob es eine realistische Fotografie je gegeben hätte – sondern es ging um die Realität des Fotos, die malerisch nachempfunden wurde, mit allen Unschärfen, Kontraststeigerungen, Farbverfälschungen, überstrahlten Lichtern usw. Von fern sahen diese Bilder aus wie Fotos, sobald man sich näherte, merkte man: verdammt, das ist ja gemalt!
Und da kommen wir zu einem weiteren, ganz wichtigen Element in der Arbeit von Zhu Hong: Die Malerei ist spürbar, versteckt sich nicht. Farbe ist fühlbar, Pinselspuren sind sichtbar, da waren Hände am Arbeiten, nicht bloß Konzepte. Und wie die Bilder hier hängen, beleuchtet sind, sich gegen ihre Umgebung durchsetzen müssen, das könnte wiederum Sujet für die Malerin Zhu Hong sein. Da schließt sich der Kreis.
Ausschnitte
Was ich bisher nicht erwähnt habe: die Ausschnitthaftigkeit, Fragmentarisierung, das Herauslösen nur einzelner Elemente aus den, nennen wir sie einmal: Vorlagen. Ein Hinweis auf die Brüchigkeit unseres Bildgedächtnisses. Wir erinnern immer nur einzelne Elemente, nie ein ganzes Werk in allen Details. Prüfen Sie sich einmal und stellen Sie sich die Ihnen wohlbekannten Werke der Kunstgeschichte geistig vor! Sie werden Schwierigkeiten haben, mir genau die Handhaltung der Mona Lisa zu beschreiben, oder die Landschaft im Hintergrund.
Auch die etwas verschleierte, in Grautönen verschwommene Maltechnik der Künstlerin kann man als Zeichen für das Verblassen der Erinnerung verstehen.
Jetzt müssen wir noch etwas über die Arbeit draußen im Glaskasten sagen. Das Aquarium stellt ja immer eine besondere Herausforderung für die Künstler dar, und bei jeder Ausstellung ist man gespannt, wie dieser Raum genutzt oder verändert wird. Zhu Hong bringt uns ein Stück Dijon nach Mainz: Zwei Blätter, die Ansichten des prächtigen Grabmals von Philipp dem Kühnen (Philippe le Hardi) im Palais des Ducs darstellen, Anfang des 15. Jahrhunderts entstanden.
Ein Blatt zeigt die Kopfseite des Grabmals, mit zwei am Haupt des Herzogs knienden Engeln, das andere die Fußseite mit einem ruhenden Löwen, jeweils in Originalgröße und in einer Mischtechnik aus Tusche und Bleistift realisiert, so dass die Zuordnung zu Malerei oder Zeichnung schwer fällt. Über die Entstehungsgeschichte und die Konzeption der Arbeit können Sie sich anhand des hier ausliegenden Textes sehr gut informieren. Von mir nur soviel: Das bisher Gesagte gilt auch für diese Bildinstallation. Wieder eine Paraphrase, d. h. der Bezug auf ein bereits vorhandenes Werk der Kunstgeschichte, wieder eine fragmentarische Wiedergabe, wieder eine verschleiernde Mal- und Zeichentechnik, dieses Mal fast abstrakt anmutend. So wie die Malerin sich mit Sorgfalt und Handwerk einem fremden, sehr alten Stück Bildhauerei nähert und es sich aneignet, so werden auch Sie bei der Betrachtung der Blätter mehr und mehr entdecken können.