Einführungsrede zur Ausstellung Christiane Schauder Agentur der Mannheimer Versicherung, Frankfurt/Main am 6. April 2000
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
dieses Büro dürfte in Frankfurt einer der kleinsten, wenn nicht sogar der kleinste Ausstellungsraum sein, und daß uns Vernissagengästen bei aller sympathischen Enge die Werke der Künstlerin Christiane Schauder nicht beengen, sondern daß diese immerhin 12 verschiedenen Beispiele ihrer Arbeit aus den letzten Jahren sich geradezu harmonisch in diese Umgebung einfügen und für sie gemacht zu sein scheinen, das liegt nicht nur an den Oberflächenfarben, sondern an räumlichen Phänomenen. Ich möchte also über die dritte Dimension sprechen, und das klingt zunächst paradox. Denn ich meine dabei nicht nur den Raum, in dem die Bilder hängen, als Element der Wände, nein, ich meine die dritte Dimension der Bilder selbst.
Vormoderne, moderne, postmoderne Malerei
Das erste abstrakte Bild Kandinskys steht als Ikone des zentralen Gedankens der Moderne: der Abstraktion, es ist erste konsequente Formulierung und gleichzeitig Beginn einer Entwicklung hin zum radikalen Autonomiestatus des Kunstwerks. Hatte bereits das 19. Jahrhundert die Bindung der Kunst an Aufgaben, Auftraggeber und einen festgelegten ikonographischen Kanon überwunden, wird mit der Abstrahierung die Bindung an den Gegenstand aufgelöst und mit dem abstrakten, gegenstandslosen Werk schließlich jedes anleitende Vergleichen mit dem Vorgegebenen der Natur ausgetrieben und aufgegeben. Formuliert ist damit die freie, autonome Malerei, die damit auch den freien, autonomen Künstler ermöglicht. Gegenstandslose Kunst ist "l'art pour l'art" im reinen und im positivsten Sinne.
Dieser Schritt vor knapp 100 Jahren setzte das Wegzeichen in Richtung Moderne und ist unter anderem die Voraussetzung für alle Kunstentwicklungen des letzten Jahrhunderts bis zur Aufhebung des Kunstwerks überhaupt.
Damit erzähle ich Ihnen vermutlich nichts Neues, und es liegt mir auch fern, die gesamte Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts zu bemühen, um das Werk einer einzelnen Künstlerin zu erklären. Aber ich meine, ein zugespitzter Verweis auf den geistigen Hintergrund der Kunst unserer Tage ist angebracht, und zwar aus zwei Gründen:
Zum einen scheint mir, je radikaler die Gedanken der Moderne fortschritten, umso seltener wurden sie vom Publikum mitvollzogen, und ich meine nicht die breite Masse. Für sie sind Begriffe wie "moderne Kunst" oder Namen wie Picasso nach wie vor Synonyme für unsinnige, weil ihr, der Masse, unverständliche und dazu teure Eskapaden einer abgehobenen Intellektuellenschicht.
Nein, ich meine den gutwilligen, gebildeten, interessierten Bürger, der durchaus den Kunstgenuß sucht und das Kunsterlebnis für ein unverzichtbares Lebensmittel hält. Dieser Bürger atmete hörbar auf, als mit der Revision der Moderne Anfang der achtziger Jahre das Malen scheinbar rehabilitiert wurde, ja sogar die Gegenständlichkeit wieder zugelassen, besser: neu verordnet wurde. Inzwischen hat auch die Postmoderne den Moment ihrer Revision erreicht. Und - das ist das Fatale - diese Entwicklungen sind im Grunde Diskurse innerhalb einer soziologisch extrem isolierten, gut informierten Gruppe von Insidern geblieben, einer Gruppe aus Vordenkern in Person etwa eines Heinrich Klotz, an den ich hier in Frankfurt gern erinnere und auf den ich mich beziehe.
Nein, nicht einmal das Wort "Vor-Denker" trifft zu, denn es impliziert ein "Nach-Denken" durch die ihnen Folgenden. Daß viele den Gedanken der Moderne nicht gefolgt sind, ist unter anderem daran zu merken, daß den Bildern etwa von Christiane Schauder mit einem vor-modernen Bewußtsein begegnet wird. Nach wie vor wird nach Gegenstandsbezügen gesucht, zugegeben: bisweilen provoziert durch Titel und Texte. Aber ein Wort wie "Landschaft" als beschreibende Metapher kann heute etwas sehr Theoretisches, Abstraktes, Geistiges meinen. Es ist die Bezeichnung für eine Ansammlung von Elementen in einer Ebene, d.h. in einem Raum, auf den oder in den man blicken kann. Genauso wie ein "Technologiepark" mit einem Barockgarten nur auf sehr strukturell abgehobenem Niveau vergleichbar ist und beim "Datenhighway" und dem "Surfen" durchs Internet die körperliche Bewegung auf den Mausklick beschränkt ist (Die geistige Beweglichkeit wird im Moment noch durch Datenübertragungsraten gemessen). Über das "Surfen" in Christiane Schauders Bildern sprechen wir gleich noch.
Die vom Kunstwerk selbst gesetzte Realität
Ein Grund also, heute den Beginn der Moderne heranzuziehen, ist die Aufforderung - und das betrifft nicht nur diese Malerin - endlich auch in der persönlichen Kunstbetrachtung den Ansatz des 19. Jahrhunderts zu verlassen. Denn - und dies ist der zweite Grund: Die Künstlerin reflektiert sehr bewußt die kulturellen Spuren unserer Zeit - das ist leider nicht selbstverständlich - und befindet sich mit ihrer Arbeit nicht nur zufällig in einem Diskussionszusammenhang, dessen Geschichte sinnvoll ist zu kennen.
Wenn also der Begründungszusammenhang eines Werkes nicht mehr aus unserem Denken über die Wirklichkeit entstammt und nicht mehr der Vergleich mit einer mehr oder weniger stimmig nachgeahmten Natur über den Rang eines Kunstwerks entscheidet, so kann offenbar allein die vom Kunstwerk selbst gesetzte Realität auch seine Beurteilungsnorm enthalten. Nicht der inhaltsgeladene Bildgegenstand zählt, sondern die inhaltsfrei gewordene Formerscheinung des Artefakts, des Kunstwerks.
Mit anderen Worten: Komposition als ästhetische Quintessenz kommt zur vollen Geltung. Komposition - und dies könnte auch eine Bedeutung des Begriffes "Landschaft" sein - bezieht sich auf die Anordnung von Farben und Formen auf einer Fläche - zunächst -, und als naives Instrument unserer Einschätzung können wir ein "Harmonieempfinden" bezeichnen. Das Wort ist mir allerdings zu psychologisch. Es verführt zur reinen Innenschau unter der Fragestellung: Was macht das Bild mit mir?
Das Innerliche soll nicht ausgeschlossen werden, bleibt aber - man gestatte mir die Zuspitzung: zu "oberflächlich". Genausowenig wie die Bedeutung eines Kunstwerkes wie der Keks in der Schachtel liegt, ist sie dem Assoziierungsdrang und der emotionalen Zuständlichkeit des Betrachters überlassen - Schönheitsempfinden, auch als Triebkraft des Kaufinteresses, hin oder her.
Verhältnisse der Bildelemente
Nein, die Dimensionen der Harmonie eines Kunstwerks sind durchaus der Analyse zugänglich, wenn auch auf sehr theoretischer Ebene. Wenn Sie z. B. die mehrteiligen Arbeiten der Malerin unter die Lupe nehmen, werden Sie Schwerkraftverhältnisse entdecken können, Gegensatzpaare, Reihungen mit beschleunigter und verlangsamter Veränderung von Element zu Element, sogar Variabilitäten in Form von veränderbaren Anordnungen der Bildelemente zueinander. Die kinetische Komposition hat hier Spuren hinterlassen. Die Bildserie ermöglicht und erfordert zudem ein Nacheinander: Jedes Einzelbild kann als in sich zentriertes Bild wahrgenommen werden, oder auch als konkurrierendes Element in einer Serie von Phasen. Die Bewegungsrichtung dabei ist variabel. Alle Elemente werden uns in einer bestimmten Anordnung gleichzeitig angeboten.
Auf der anderen Seite - auch in diesem Spannungsfeld liegt die Qualität der Arbeit - sind die Bilder zu einem guten Teil gewichtsfrei, sie weisen eine mehr oder weniger strukturierte Fläche auf, zeigen keine Konturen, Farbverdichtungen, Schwerpunkte innerhalb der Fläche. Was hier passiert ist, kann man als experimentelle Loslösung von den eben genannten Kompositionsdimensionen bezeichnen: An die Stelle der Entscheidung, welches Farbelement an welcher Stelle im begrenzten Bildfeld liegt, tritt das "all over", das schwerpunktlose Verteilen von Farben auf der Fläche. Die Vorbereitung durch z.B. Jackson Pollock ist der historisch zu bezeichnende Moment, "Streumuster" der abschätzig klingende, aber treffende Ausdruck. Rein maltechnisch gesehen finden Sie auch das Dripping, also das Auftropfen von Farbe, verwoben mit unterschiedlichsten weiteren Auftragsmethoden, in Christiane Schauders Bildern wieder.
Das Bild als Objekt einer kompositorischen Analyse ist also zum Teil gegeben, vor allem in der großflächigen Sicht auf die Bildobjekte, zum anderen - wenn man in die Details geht - aufgegeben zugunsten eines mit einem Blick erfaßbaren "instant image" im Sinne einer einfach strukturierten Sofortbild-Wirkung. Das Bild sagt: So bin ich und nicht anders.
Tiefendimensionen
Wenn man aber noch weiter in die Details geht - und auch in diesem Gegensatzpaar ergeben sich fruchtbare Arbeitsfelder für den Betrachter - landet man bei der Tiefenanalyse der Farbflächen und entdeckt die dritte Dimension. Hier wäre kurz etwas zur Maltechnik zu sagen: Sie sehen vor allem Bilder in Enkaustik, d.h. in einer sehr alten Technik, in der Farbpigmente in flüssigem, d.h. erhitztem Wachs oder Ersatzstoffen gelöst wird. Nach dem Auftragen erkaltet und verfestigt sich die Masse sofort. Enkaustik ermöglicht eine sehr differenzierte Lasurtechnik, d.h. das Durchscheinen verschiedener Schichten, außerdem führt sie zu einer tastbaren bzw. besser: erahnbaren Oberflächenstruktur. Die erste Eigenschaft des Materials, das Durchscheinen mehrerer Schichten, wurde von der Malerin schon Jahre vorher mit verschieden stark verdünnten Acrylfarben erprobt. Heute finden wir in der Regel eine Kombination beider Techniken, entweder neben- oder übereinander.
Und dieses Neben- und Übereinander, d.h. die Bewegung auf der Fläche und in sie hinein, d.h. in die Tiefen des Farbkörpers, sind Erfahrungswege, die uns die Malerin mit ihren Bildern eröffnen will. Insofern also durchaus "surfen", wenn Sie wollen.
Das war der Blick in die Tiefe der Details. Aber noch ein Gedanke ist wichtig: Mit dem Minimalismus des "instant image" findet automatisch der Übergang zum Bildobjekt statt. Das Bild gewinnt Dingcharakter, ist selbstzufriedener, weil in seiner eigenen Begründung liegender Gegenstand, der sich unserer Gegenstandswelt, beispielsweise einer Büroumgebung, nein: nicht anpaßt, sondern zugesellt. Mit einem unausgesprochenen "Ich bin auch noch da" - was, so simpel es klingt, wieder ganz neue Dimensionen eröffnet - hängt es im Falle von Christiane Schauders Bildern an der Wand und meint nichts anderes als sich selbst.
Bilder als körperliche Gestalt
Bildobjekt meint auch: Das Bild verläßt den Rahmen und tritt hervor. Es hat körperliche Gestalt, etwa ausgedrückt durch die mitgestalteten Seitenflächen. Sie deuten nicht nur eine Tiefe des Bildraums an, sondern sind auf dem Weg zu Schauseiten des Objekts. Bisher fehlt die Rückseite - wenn auch die Malerin immer wieder über komplette selbständige Bildformen als im Raum stehende Körper nachgedacht hat. Aber sie versteht sich als Malerin. Andere sind in Konsequenz dieses Gedankenwegs zum "shaped canvas", d.h. zum geformten, nicht mehr rechtwinkligen Leinwandbild gekommen. Christiane Schauder aber bleibt bei der mehrfachen Doppelgestalt, die so reizvoll ist:
Landschaft und autonome Gestalt Material für Assoziation und Analyse Komposition und Streumuster Bewegung hin und her, aber auch vor und zurück Serien im Nacheinander, aber auch Reihen nebeneinander Farbobjekt und gleichzeitig erfahrbares Bild
Die Arbeit der Malerin bezieht insofern keine streitbare Position im Kampf um Avantgardeforderungen des vergangenen Jahrhunderts. Sie ist aber auch nicht der scheinbaren Beliebigkeit historisierender Tendenzen der Postmoderne zum Opfer gefallen. Auch die Frage nach der Berechtigung der Malerei an sich wurde von ihr durch jahrelanges Tun mit Selbstverständlichkeit beantwortet. Diese Selbstverständlichkeit spricht aus ihren Bildern, die wissen, daß sie ihr Versprechen halten: ein unaufdringliches Angebot der Tiefe, und bewußte Spannungsverhältnisse zwischen künstlerischen Lösungen, die verarbeitet, fortgeführt und experimentell radikalisiert werden. Und die Bilder wissen auch von ihrer eigenen Sinnlichkeit, die ich Ihnen heute abend nicht ausreden, vielmehr nur vertiefen wollte.
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