Rede zur Eröffnung der Ausstellung Christel Schnitzler-Steinbach: Zeichnungen und Fotografie Im Rathaus Bodenheim, 17. Juni 2000
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Als ich auf den Tag genau vor zwei Jahren bereits einmal über die Arbeit der Künstlerin Christel Schnitzler-Steinbach sprechen durfte, behauptete ich, daß ihre Bilder Ergebnisse einer intensiven Beobachtung von Phänomenen seien, jedem einzelnen bekannt und individuell erfahrbar, aber ebenso generell im Sinne von geradezu physikalischen Grunderfahrungen und Gesetzmäßigkeiten. Dadurch hebe sich die Flüchtigkeit und Instabilität der Wahrnehmung auf, und es entstehe ein sehr umfassender Blick auf eine Welt, die man gewohnt ist, nur in vorbeihuschenden Einzelheiten zu erleben.
Farben
Ich freue mich, diesen Gedanken in der heutigen kleinen, aber sehr gezielt zusammengestellten Ausstellung weiterverfolgen zu können. Dabei möchte ich fünf Aspekte hervorheben und etwas genauer untersuchen.
Natürlich müssen wir - erster Aspekt - über Farben sprechen, wenn schon eine Ausstellung den provokanten, auf der Einladungskarte mehrfach plakativ wiederholten Titel "rot" und "ich sehe rot" trägt. Es geht dabei zwar um eine einfach pragmatische Konzentration zweier bestimmter Werkgruppen in einem kleinen Raum, aber Rot hat auch seine eigene Magie, ist die "Farbe an sich". Wenn Sie beliebige Menschen unvorbereitet nach irgendeiner Farbe fragen, nennen die meisten spontan "Rot". Ich weiß auch nicht, weshalb das so ist.
Rot steht nicht zuletzt für diesen "ganz besonderen Saft", der uns leben lässt. Leben bedeutet auch Wärme, nicht zuletzt Erotik, Rot ist immer etwas besonderes, ist Hervorhebung, zieht Aufmerksamkeit auf sich, die Farbe Rot hat mit uns als Lebewesen mehr zu tun als irgendeine andere, wenn sie auch nicht jedermanns Lieblingsfarbe ist.
Wirklichkeitsspuren
Farbe ist aber - und hier kommen wir zu einem zweiten Aspekt der Ausstellung - nach aller Erfahrung an Gegenstände gebunden. Auch bei der Künstlerin geht es nicht um absolute, reine, von der Objektwelt losgelöste Farbe, sondern sie beschäftigt sich, das sehen Sie, mit Gegenständen ihrer Umwelt, es fließen also Wirklichkeitsspuren in die Bilder ein, bei den fotografischen Arbeiten allemal. Der Gegenstand, der bei den Zeichnungen im Zentrum des Interesses steht, ist eine rote Jacke. Ein Kleidungsstück, das es wirklich gibt, es hängt nach wie vor im Atelier der Künstlerin, und es ist ein Kleidungsstück, das ihr nahe ist, seit Jahren, ein geliebtes Kleidungsstück, nicht ohne Spuren des jahrelangen Gebrauchs, und aufgeladen mit Erinnerungen. In diesem Fall - solche anekdotischen Randinformationen sind bisweilen durchaus erlaubt - handelt es sich um eine Jacke, die vor beinahe 25 Jahren vor einer Reise angeschafft wurde, einer der schönsten Reisen des Ehepaares Schnitzler, wie mir die Künstlerin sagte. Die Jacke ist also nicht nur ästhetisch herausforderndes Sujet wie etwa die Motive eines Stilllebens, sondern sie hat symbolischen Wert, wenn auch zunächst nur für die Künstlerin selbst.
Diesem roten Kleidungsstück nähert sich Christel Schnitzler-Steinbach nun auf analytische Weise, sie untersucht den Gegenstand auf mehreren Ebenen. Da ist zunächst einmal das Element der Fotografie. Die Detailaufnahme einer einzelnen Stoffpartie, eine kleine Gebirgslandschaft aus Falten, dient als Baustein in vielen verschiedenen Reihungen und Kombinationen. Die Aufnahme steht sozusagen für die Vorstellung "weicher Stoff", eine Vorstellung, die durchaus mit Gefühlen der Wärme, der Sanftheit, des Wohlfühlens verbunden werden kann, durch das tiefwarme Rot unterstützt. Aus dem Foto ist allerdings nichts über die tatsächliche Form der Jacke zu entnehmen, ja es ist nicht einmal ablesbar, daß es sich um ein Kleidungsstück handelt. Ein zweites, dunkleres Foto abstrahiert noch weiter, so dass von den sich voluminös aufwerfenden Formen des Stoffes nur noch ein Flächenmuster übrig bleibt.
Das Element der Gegenstandsform erscheint nun in einer zweiten Bildebene: den Umrisslinien, angedeutet in farbiger Kohle, die eine Jacke erkennen lassen, dies aber auch so reduziert, daß man eher von einem "Prinzip Jacke" sprechen kann als von einem bestimmten individuellen Kleidungsstück. Das dritte Element schließlich sind flächige Schraffuren - hier kommen ergänzend blaue, violette und grüne Tönungen hinzu - , die sich teils den organischen Formen der Umrisslinien und den Licht-Schatten-Gebirgen des Fotos annähern und diese fortsetzen, teilweise aber auch in konstruierte rechteckige Flächen münden, die mit dem Bildgegenstand keine konkrete Beziehung mehr haben, außer natürlich einer kompositorischen.
Die drei genannten Bildelemente treten auf den einzelnen Bildern dieser Werkgruppe unterschiedlich deutlich in Erscheinung, das eine Mal fehlt die Umrisslinie, das andere Mal die Flächenschraffur, und auch die Fotos sind mal prominenter, mal zurückhaltender in die Komposition eingebunden. Auch Übergriffe finden vereinzelt statt, indem sich gezeichnete Linien und Schraffuren als Kratz- und Schabspuren durch die Fotos fortsetzen.
Was Christel Schnitzler-Steinbach also unternimmt, ist eine Schichtung dreier unterschiedlich abstrahierter Ebenen der Gegenstandswahrnehmung. Erst in der Synthese dieser Elemente, wenn wir als Betrachter also den Umriss der Jackenform, das im Foto ausgedrückte Gefühl für den Stoff und die farbigen Modulationen der Schraffuren in der Zusammensicht verarbeiten, entwickeln wir eine komplexe Vorstellung vom Gegenstand, der gemeint ist.
Komposition
Mit dem eben genannten Stichwort der Komposition ist der dritte Aspekt der künstlerischen Arbeit angesprochen, und hier beziehe ich die Fotoarbeiten bereits mit ein: die Gleichzeitigkeit von Beobachtung und Arrangement, von Aufnahme und Wiedergabe, Abbild und Konstruktion, Analyse und Synthese. Wir bewegen uns mit der Künstlerin weder im rein figurativen noch im rein absoluten Bereich der Bildgestaltung - ich benutze diesen etwas umständlichen Ausdruck, da weder die Begriffe Malerei, noch Zeichnung, noch Fotografie und auch nicht Collage eine exakte Bezeichnung für die hier vorgestellten Arbeiten abgeben. Analytisch-synthetische Bildgestaltung ist zwar, auf theoretischer Warte betrachtet, ein Verfahren, das in fast allen künstlerischen Ausdrucksformen der Moderne zu finden ist, aber in den Arbeiten von Frau Schnitzler-Steinbach tritt diese Doppelgesichtigkeit, man kann auch sagen: Zweigleisigkeit, Gratwanderung, Ambivalenz, besonders deutlich in Erscheinung.
Sie haben es während meiner Beschreibung der großen Bilder schon gehört: Bestandsaufnahmen der Gegenstandswelt - namentlich die fotografische Abbildung, aber auch die Umrisszeichnung - werden kombiniert und arrangiert zu einer neuen, ganz persönlichen Sicht eines kleinen, relativ begrenzten Erfahrungsbereichs der Künstlerin. Und da geht es dann auch sehr bald gar nicht mehr um die rote Jacke, sondern um Bilder mit ganz eigenen Wirklichkeiten und Gesetzmäßigkeiten. Die Jacke als Sujet ist für uns - und um uns als Betrachter geht es, sobald ein Bild das Atelier verlässt - schon gar nicht mehr wichtig. Was interessiert uns die alte verschlissene Jacke der Künstlerin? Die Bilder interessieren uns. Und deswegen müssen wir Anekdoten wie die anfangs erwähnte auch recht schnell wieder vergessen.
Sprechen wir über die Polaroid-Serien. Das zugrundeliegende Verfahren ist einfach und schnell beschrieben: Durchweg geht es um Zeitabläufe, Phasen von Lichtbewegungen, die sich auf ausgewählten Gegenständen niederschlagen. Dem Motto der Ausstellung entsprechend dominiert auch bei der hier gezeigten Auswahl die Farbe Rot. Die Künstlerin beobachtet, wie das wandernde Sonnenlicht - so erscheint es uns ja subjektiv - das Bild der Welt ständig verändert. Oberflächen wandeln sich in Farbe und Struktur, Schatten wandern, dadurch ergeben sich auch räumliche Phänomene, das ist uns allen aus Erfahrung bekannt, aber nur die wenigsten haben den Blick und die Muße dafür, sich dieses tägliche Wunder genauer anzuschauen. Das Atelier von Christel Schnitzler-Steinbach im Giebel ihres Hauses lädt in besonderer Weise zu solchen Beobachtungen ein. Aber diese Beobachtungen müssen auch gemacht werden - und die Künstlerin verfügt dazu gleichermaßen über die notwendige Ruhe, die Liebe zu Details, das Wartenkönnen, aber auch über die Fähigkeit zu systematischer, geradezu naturwissenschaftlicher Bestandsaufnahme. Die Polaroidkamera mit ihren technischen Grenzen der Einflussnahme ist ihr als Werkzeug gerade recht.
Ich sprach bei den Fotos bisher von Beobachtung, aber die andere Seite, die Komposition, ist auch bei diesem scheinbar rein passiven Verfahren ständig gefordert. Zuallererst die Auswahl und Begrenzung des Motivs. Aus der theoretisch unendlichen Anzahl möglicher Perspektiven in unserem Gesichtsfeld wählt die Künstlerin nur die eine, für sie bildgemäße aus. Auf der Zeitdimension erfolgen die nächsten Entscheidungen: Wann fotografiere ich? Bei welchem Wetter, in welchen Zeitabständen, wie häufig? Die Abstände zwischen den einzelnen Phasen liegen je nach Motiv zwischen zwei und zwanzig Minuten, etwa. Und schließlich die Frage der Präsentation: Wie viele Phasen werden im Bild kombiniert? Senkrecht übereinander oder nebeneinander? Und so weiter.
Also auch in den Fotoarbeiten, die so systematisch und einfach-beobachtend erscheinen, gehören passives Aufnehmen, Entgegennehmen der Wirklichkeit und aktives Neugestalten untrennbar zusammen.
Zeitphänomene
Der vierte Aspekt im Werk der Künstlerin, über den ich hier sprechen will, ist jetzt auch schon angeklungen: das Zeitphänomen. Wenn wir ein einzelnes Foto aus den Polaroidserien betrachten, erscheint es uns als fixe Komposition, als dauerhaftes und beständiges Bild mit feststehenden Flächen, Volumen, Farben und Schatten. Auch wenn die Bildausschnitte bei Schnitzler-Steinbach eher Nebensächlichkeiten festhalten, die wir kaum beachten, nehmen wir die Fotos als getreue Repräsentanz unserer Umwelt. Bereits im nächsten Foto wird dieses Bild zerstört, indem nämlich die gleiche Szenerie schon ganz anders aussieht. Ich sage Ihnen hier nichts Neues, will auch nicht in die Philosophie der Fotografie einsteigen, aber ein Hinweis auf die Vergänglichkeit - vielleicht nicht unbedingt der Welt, aber unserer Wahrnehmung von ihr - scheint mir hier wichtig und in den Bildserien ausgedrückt, still und unaufdringlich, aber spürbar.
Wenn die Künstlerin die Zeit zerlegt, sie mithilfe der Fotografie phasenweise, scheibchenweise festhält, schafft sie mit den Fotos kleine dauerhafte Monumente der sich unablässig wandelnden und daher flüchtigen Erfahrung, macht aber mit der Reihung dieser Wirklichkeitsfragmente gleichzeitig ihre Vergänglichkeit bewusst. Auch hier hat das Polaroid-Sofortbildverfahren seine spezifische Berechtigung, denn es gibt rein physisch immer nur eine einzige Aufnahme des Augenblicks. Die Vervielfältigung ist zwar auf dem Umweg über die Reproduktion technisch möglich, dabei aber verliert das Foto die Aura des Originals, die Aura des unwiederbringlichen Moments.
Das Prinzip der Serie
Mit einem fünften Aspekt, dem Phänomen der Serie, möchte ich schließen. Auch wenn das zeitliche Nacheinander in den Fotobildern zu mehr oder weniger unterschiedlichen Einzelfotos führt, nehmen wir doch die Gleichartigkeit der Elemente wahr, und zwar nicht das Nacheinander, sondern wir erleben das Bild natürlich als Ganzes. Es entstehen Muster, rhythmische Strukturen, Beziehungen zwischen den Einzelteilen und somit ästhetische Qualitäten, die mehr und anders sind als die Summe der Elemente, durch die sie ausgelöst werden.
Mehr noch als bei den Polaroid-Serien mit ihren weißen abgrenzenden Rahmen können Sie das in den Fotogruppen auf den Zeichnungen erleben. Es scheinen sich die Strukturen, Flächen und Schatten des einzelnen Fotos im jeweils nächsten, das genau gleich ist, fortzusetzen, es drängen sich in unserer Wahrnehmung Phänomene in den Vordergrund, die die Bildränder vergessen machen. Durch Variation der Ausrichtung der Fotos und damit auch des jeweiligen Rapports, also des Aufeinandertreffens der Bildmuster, ergeben sich verschiedene Spielarten. Es mag sogar sein, daß Sie erst spät gemerkt haben, daß in jedem Bild exakt das gleiche Foto in mehrfacher Kopie verwendet wird.
Meine Damen und Herren, wir haben jetzt so ganz nebenbei einige der zentralen Themen in der Kunst der Moderne gestreift: Die Farbe, die Analyse des Bildgegenstands und seiner Widerspiegelung in unserer Wahrnehmung, das Verhältnis von Abbildung und Komposition, zeitliche Phänomene und Effekte von Serien und Vervielfältigung. Daß dies möglich ist, liegt an der Tiefe und Komplexität der Arbeit einer Künstlerin, zu der ich die Bodenheimer herzlich beglückwünsche: Christel Schnitzler-Steinbach.
Vielen Dank!
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