Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Innenwelten“ – Bilder der Künstlergruppe „Ausdruck“, Kloster Ebernach, im Hotel INNdependence, Mainz, am 3. Mai 2001
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
der Rundgang durch die behaglichen Zimmer dieses Hauses – ein Rundgang, der späteren Hotelgästen bei der Auslastung, die wir den Betreibern wünschen, kaum noch möglich sein wird – dieser Rundgang hat Ihnen nicht nur einen Eindruck von einer nicht ganz alltäglichen Herberge vermittelt, sondern wurde gleichzeitig zur Besichtigung einer nicht ganz alltäglichen Ausstellung. Die 21 Künstler der Gruppe „Ausdruck“, die sie hier sehen (20 Männer und eine Frau), haben ihre Heimat im gleichnamigen Atelier im Kloster Ebernach an der Mosel. Es gibt dort eine sogenannte Kreativwerkstatt für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung oder Behinderung, weiterhin wurde inzwischen eine ständige Sammlung von Werken aus 15 Jahren angelegt, es gibt eine Galerie mit Verkaufsausstellung (einschließlich einem Angebot von Kunstkarten, Postern, T-Shirts und Krawatten), und die auswärtigen Aktivitäten der Gruppe seit 1992 sind beachtlich, nachzulesen in den bereitliegenden Informationsblättern.
Ein Außenseiter-Kunstbetrieb
Man sollte also durchaus von einem künstlerischen Betrieb sprechen, der sich hier präsentiert, wobei hervorgehoben wird, dass die beteiligten Künstler nie eine künstlerische Ausbildung erfahren haben. Insofern sind sie im Sprachgebrauch Laien oder Amateure – woran die ungewöhnlich niedrigen Verkaufspreise der Werke auch so schnell nichts ändern können.
Der biografische Hintergrund der Künstler aber – d.h. die geistige Beeinträchtigung, die wie immer geartete und entstandene Problematik der fremden, unangepassten, sozial nicht immer kompatiblen Weltsicht, der daraus resultierende besondere Ausbildungsweg, teilweise die Psychiatrisierung, zumindest die Notwendigkeit einer besonderen Betreuung, die erzwungene Unselbständigkeit und die vielen sich daraus ergebenden Erfahrungen, die „die anderen“ kaum teilen können – all dies stellt die Künstler in den Zusammenhang einer Kunstproduktion, die als „Außenseiterkunst“ eine Nische im allgemeinen Kulturbetrieb gefunden oder besser erobert hat: Mit fast allen Eigenschaften einer „Szene“, also Stars und Etablierten, einer ab und zu aufschwappenden Medienöffentlichkeit, Sammlern, Entdeckern, Vermittlern und angesehenen Ausstellungsorten. Seit dem letzten Jahr gibt es sogar einen entsprechenden europäischen Kunstpreis, und der zweite Preisträger, Edmund Krengel, ist mit einigen seiner Arbeiten hier vertreten.
Man könnte also von einer Professionalisierung der Nichtprofis sprechen, und ein entsprechendes Selbstbewusstsein ist – völlig zu Recht - in vielen der mittlerweile zahlreichen Publikationen und Selbstdarstellungen der Szene (einschließlich Websites) zu spüren.
Bei der Beschäftigung mit einer ähnlichen Ausstellung in Mainz vor einigen Jahren fand ich in einem Katalogartikel über das Blaumeier-Atelier eine überzeugende Formulierung: "Den Werken fehlt die Ängstlichkeit, die so oft bei Laienkunst zu spüren ist." Man kann es auch positiv formulieren: Die Werke treten mutig und selbstbewusst auf uns zu. Das ist der Mut leidenschaftlicher Künstler.
„Meine Seele behalte ich für mich“
Sie tun damit eigentlich einen Schritt zum autonomen Kunstwerk, und dieser Schritt ist, auch wenn er vielleicht zuerst nur aus einem spontanen Gefühl der Stärke heraus getan wird, und auch wenn er seinen sprachlichen Ausdruck durch vermittelnde Betreuer findet, sehr groß.
Bedeutet er doch, dass ich als Künstler verlange, dass die Menschen meine Kunst wahrnehmen und akzeptieren, ohne mich selbst zu kennen. Dass sie sie nicht missbrauchen, um hinter meine Persönlichkeit zu schauen - "meine Seele behalte ich für mich", lautet die Maxime eines Beteiligten. Dass sie sich nicht zufrieden geben mit biografischen Erklärungen, wenn sie meine Kunst verstehen wollen.
Was ebenso abgelehnt wird, ist eine Therapeutisierung der Kunst, ist eine Degradierung der Kunst zum therapeutischen oder diagnostischen Werkzeug. Und dieser Anspruch bedeutet auch, dass Kunst nicht als Beschäftigungstherapie missverstanden wird, weder für den Künstler noch für das Publikum und auch nicht für die Kunstvermittler.
Dass der, sagen wir einmal, „klinische Aspekt“ einer Kunstausübung bei der Arbeit mit Problemgruppen einer Gesellschaft seine Bedeutung und seinen Wert hat, sei unbestritten, aber das soll uns hier im Moment nicht interessieren. Wir bewegen uns hier im Kunst-Kontext, und das ermöglicht, ja erfordert die Anwendung von Qualitätsbegriffen. Unter Behinderten gibt es genauso viele künstlerische Begabungen wie unter anderen Menschen. Diese zu erkennen und ihnen eine Ausdrucksmöglichkeit zu verschaffen, ist eine zentrale Aufgabe von Einrichtungen wie etwa im Kloster Ebernach.
Zum Selbstbewusstsein gehört aber nicht nur die Pflege der Kunst und die Förderung der Künstler im geschützten Bereich von Einrichtungen, sondern auch der Schritt in die Öffentlichkeit, unter anderem durch Ausstellungen wie in diesem Hotel, der – wie ich hörte – glücklicherweise noch viele folgen sollen.
Ausbruch aus der Nischenexistenz
Ich würde mir allerdings wünschen, dass mit den hier kurz skizzierten Absichten der verschiedenen Künstlergruppen und ihrer Vermittler auch wirklich Ernst gemacht wird. Ich benutzte vorhin den Begriff „Nische im Kulturbetrieb“, aber aus dieser Nischenexistenz, so komfortabel sie vielleicht funktioniert, sollte ausgebrochen werden.
Denn, machen wir uns nichts vor, die Grenzen zwischen allgemeinem Kunstbetrieb und der Sparte „Außenseiterkunst“ sind nur an wenigen Stellen durchlässig, das liegt auch an den trotz aller Anstrengungen getrennten Vermittlungsstrukturen, den Institutionen und vielleicht auch am beteiligten Personal. Auf eine Ausstellung wie diese gehört auch das Mainzer Kunstpublikum, die örtliche Kunstkritik und – Malu, gestatte mir – ab und zu auch der Kulturdezernent. Das ist alles organisierbar, wenn man es wirklich will, und wenn man weiß, wie es funktioniert.
Die Ignoranz der „kulturellen Kunst“ – diesen absurden Ausdruck fand ich in einer der Quellen - , ist nämlich gar nicht so groß, vermute ich. Solange aber bestimmte Etiketten benutzt werden, denen die Konnotation „Sozial“ anhaftet, darf man sich über die Einordnung ins Außenseiterfach nicht wundern.
Psychologische Erklärungsmuster
Denn der eben genannte Schritt zur Autonomie des Kunstwerks ist beileibe nicht vom Publikum mit den Künstlern mitvollzogen worden. Zu einfach ist es, zunächst Unverständliches, Unbekanntes durch Rückgriff auf einfache Erklärungsmuster zurückzuführen. Das ist das Problem der Kunst seit der klassischen Modern überhaupt. Die Künstlerbiografie bietet sich da an, auf dieser wie auf der anderen Seite: So finden sich etwa in Zeitungsrezensionen der „Künstlergruppe Ausdruck“ Hinweise auf „tiefenpsychologisch interessante Arbeiten“, die „etwas vom seelischen Empfinden offenbaren“, und dieses „auf zumeist unbewusste Weise freilegen“.
Solche Bemerkungen sind vielleicht gut gemeint, aber als Künstler würde ich sie mir verbitten. Denn es geht keineswegs nur um „Innenwelten“, wie z.B. diese Ausstellung betitelt ist, sondern genauso um Außenwelten, um Reflexion des Erlebten, um Abbildung des Gesehenen, um Auseinandersetzung mit Farbe, Format und Material usw. usw., d.h. um ganz allgemeine malerische Probleme. Oder anders herum gesagt: Jede Kunst ist auch ein Spiegel von Innenwelten, aber eben nur unter anderem.
Vor einer Psychologisierung und damit Romantisierung der Künstlerpersönlichkeit möchte ich – auch im Sinne der hier Beteiligten – eindringlich warnen. Die Tatsache, keine formelle künstlerische Ausbildung erlebt zu haben, ist nicht Garant für künstlerische Einzigartigkeit und Authentizität oder für eine größere Direktheit und Intensität im Ausdruck. Sie werden auch in dieser kleinen Auswahl von Arbeiten sehen, dass es Ähnlichkeiten, ästhetische Muster und formelle Zwänge gibt, aber auch einzelne Werke, die hohe Individualität und Innovation aufweisen.
Erfahrungen werden zu Bildern
Die Idee des naiven, unbeeinflussten, nur spontan und impulsiv aus seinem Inneren schöpfenden Künstler ist selbst wirklich naiv. Sie folgt einem Kaspar-Hauser-Modell, das es so nie geben wird. Die Eisenbahnzüge und Häuser Edmund Krengels folgen einer Erfahrung und Beobachtung seiner Umwelt an der Mosel oder in Holland. Die „Fernsehansagerin“ in ihrer frontalen Präsenz eines weiblichen Gegenüber hat Reinhard Lueg nicht erfunden, sondern gesehen, um sie in Linoleum zu schneiden - ebenso wenig übrigens wie er den Linoldruck erfunden hat oder wie z.B. Horst Overkamp, Jürgen Windheuser und Jürgen Brost die effektiv eingesetzte Mischtechnik aus Wachsstift und Aquarell.
Aufregend wird die Kunst meist in der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Schauen Sie sich bitte genau die vierrädrigen, besser vierbeinigen Autos von Norbert Strecker an, die wohl nie den „Elchtest“ bestehen werden – auch nicht müssen, oder – ein ganz anderer Typ von Limousine – das Autobild von Arne Schumann, eine treffliche Symbolisierung fünfspurigen dichten Verkehrs mit etwas hilflosen Menschen dazwischen.
Die zahlreichen anderen Motive, seien es Häuser, Familien, Tiere oder Blumen – sie alle sind nicht Beispiele für ein „reines, rohes, völlig neu erfundenes künstlerisches Verfahren“ – das es nicht geben kann – sondern sie entstanden in der Auseinandersetzung eines Menschen mit seinen Erfahrungen, teils ganz sinnlich und direkt, teils tief verarbeitet und verfremdet. Darin entsprechen sie strukturell jedem anderen künstlerischen Vorgang – auch wenn diese Erfahrung vielleicht nur die Erfahrung mit dem letzten Bild ist und sich die Formprozesse im Inneren des Werkes abspielen, scheinbar ohne Bezug zur Außenwelt, wie etwa in den wenigen ungegenständlichen Arbeiten der Ausstellung, z.B. den Dripping-Bildern von Hans-Joachim Kaufeld und Karin Güttrich oder Werner Giesens gestischem Ausbruch.
Die ornamentalen und äußerst nuancenreichen „Muster“ von Jürgen Knevels und die vielfach ineinander verwobenen Enten von Franz-Josef Dosot schließlich zeugen von allem anderen als wilder Inbrunst, sondern von einem hoch perfektionierten und offenbar über lange Zeit weiterentwickelten Arbeitsprozess, der einer selbst entworfenen Gesetzmäßigkeit folgt und hohe künstlerische Konsequenz zeigt. Das gleiche gilt übrigens auch für Edmund Krengel.
Strukturelle Unterschiede?
Die sogenannte Außenseiter-Kunst – das ist mir also wichtig – ist ästhetisch schwer von der anderen zu trennen. Sie fordert eine Betrachtung und Erarbeitung wie die Kunst der „offiziellen Szene“ – und zwar mit allen Konsequenzen, teilweise auch harten Qualitätsurteilen und einem sich Einlassen auf ziemlich komplizierte Debatten. Einmal vom Sozialaspekt emanzipiert, braucht sie keinen Schonraum.
Aber sie bietet auch keinen Schonraum für Kunstliebhaber, die sich im Kunstbetrieb nicht zurechtfinden oder zurechtfinden wollen. Bei allen Verdiensten um die von ihm ins Bewusstsein gehobene „art brut“, also „rohe Kunst“, muss man dem Maler Jean Dubuffet vorwerfen, vielleicht ohne es zu wollen die Vorurteile gegenüber der Kunst der Moderne befestigt zu haben, indem er versuchte, das vermeintlich „Reine, Unverstellte“ in der Kunst der Außenseiter einem verhassten Kunstbetrieb gegenüberzustellen, der sich nach seiner Meinung an „Schubladen der klassischen Kunst oder der Kunstrichtung, die gerade Mode sei“, orientiere. Diese Einschätzungen sprechen heute noch aus Äußerungen über die hier versammelte Art der Kunst, sie sei „so spürbar unprätentiös, nicht-intellektuell und unakademisch“.
Obendrein wird behauptet, „Kunstkenner sammeln diese Kunst ... , weil sie die Bilder mögen, nicht weil sie auf eine Wertsteigerung hoffen“. Erstens sammelt so ziemlich jeder Kunstkenner aus dem gleichen Grund, nämlich, weil er die Bilder mag. Und zweitens sind mir auch schon Sammler begegnet, die sehr wohl an der Wertsteigerung und Vermarktung eines von ihnen gepflegten Außenseiter-Künstlers interessiert sind. Also auch hier, im Dickicht des Kunstbetriebs, keine strukturellen Unterschiede.
Aber verlassen wir die kunstkritische Diskussion und schauen uns noch einmal die Bilder an. Es geht nämlich darum, das „Augenmerk auf die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Menschen zu richten, nicht nur auf das, was für sie getan werden muss.“
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