Rede zur Eröffnung der Ausstellung Martine Andernach, madé und Guy Toso in der Sparkassenakademie Schloss Waldthausen am 15.08.2001
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
1930 erschien in Paris ein unscheinbares Heftchen mit dem Aufdruck „AC“ und dem Titel „Numero d’Introduction du Groupe et de la Revue Art Concret“. Es war das rigorose Manifest der konkreten Kunst, herausgegeben vom Maler und Dichter Theo van Doesburg. Seine bedingungslosen Forderungen waren unter anderem:
Van Doesburg’s Mainifest
Kunst sei universell und habe eine universelle Sprache zu verwirklichen. Jede Bindung an die formalen Gegebenheiten der Natur oder an die Ansprüche des Sinnen- und Gefühlslebens bedeute eine Trübung des Universellen durch das Besondere und Individuelle und verunkläre durch das Lyrische, Dramatische, Symbolische die Erscheinung einer reinen, in sich selbst bestehenden Harmonie. Es ginge nicht um abstrakt deutende Kunst, sondern um konkret herstellende Kunst. Form und Bild wiesen nicht über sich hinaus, sie bedeuteten nur sich selbst.
Um dieses Ideal künstlerisch zu realisieren, könnten - so Doesburg - nur klare, intellektuell beherrschte Formen verwandt werden. Gemeint sind geometrisch messbare Elementarformen, die berechenbar, also planbar, konstruierbar und damit auch wiederholbar sind. Zu vermeiden sei jede persönliche Handschrift, vielmehr müssten möglichst mechanische Herstellungstechniken angewandt werden. Die inneren Gesetze der Kunstwerke seien mit Maßen, Zahlen und Formeln zu beschreiben, durch die ihre Harmonie und Proportion zu erklären seien. Doesburg schloss das Manifest mit einer Absage an jede literarische Deutung, Bedeutung und Konnotation: „In der Malerei gibt es nichts zu lesen, es gibt nur zu sehen.“
Mit diesen - hier verkürzt, aber keineswegs zugespitzt wiedergegebenen - Forderungen wurden Maximen formuliert, die weit über die sogenannte konkrete Kunst hinausgehen und Konsequenzen für zahlreiche andere Kunstformen nach sich ziehen. So ist hier beispielsweise der Begriff des autonomen Kunstwerks deutlich ausgedrückt - auch wenn es nicht konstruiert, sondern z. B. rein gestisch-individualistisch entstehen sollte. Der Gedanke einer weltumspannenden künstlerischen Sprache wird thematisiert, wenn auch diese Sprache vielleicht nicht die konkrete Form hat, die sich van Doesburg vorstellte.
Informationsästhetik
Und schließlich - auch das konnte der Autor damals kaum ahnen - verwies er mit der theoretischen Forderung nach der Messbarkeit von Kunstphänomenen auf ein Forschungsgebiet, das Jahrzehnte später unter dem Einfluss der technologischen Entwicklung eine Blüte erfahren sollte und das man mit Begriffen wie „Kunst und Kybernetik“ und „Informationsästhetik“ bezeichnen kann. Ich spreche von den späten sechziger und frühen siebziger Jahren. In den damaligen interdisziplinären Diskussionen zwischen Künstlern, Mathematikern, Psychologen, Philosophen, Kunsthistorikern und Informatikern wurde im Grunde um eine exakte Kulturwissenschaft gerungen, die einer Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften entsprach und die Chance zu einer umfassenden, in den Methoden und Verfahren überprüfbaren Erklärung des „Phänomens Kunst“ - so übrigens der Titel eines damaligen Bestsellers - bot. Selbst ein durchgefärbter Informeller wie Karl Otto Götz beschäftigte sich damals intensiv mit den Möglichkeiten und Grenzen der Informationstheorie bei der exakten Bildbeschreibung, mit sogenannter elektronischer Malerei und stellte mit seinen Studenten in Düsseldorf langwierige mathematisch-psychologische Untersuchungen zu diesem Thema an. Dass die Werke der konkreten und konstruktiven Kunst dafür das beste Forschungsmaterial boten, ist nicht überraschend.
Bei der Quantifizierung der Bildinformation nämlich stieß man sehr schnell an die Grenzen des Handhabbaren. Von Zerlegung, Speicherung und Verarbeitung der Bilddaten im Gigabyte-Bereich war noch nicht die Rede. Die Theorie jedoch verwies auf die prinzipiellen Möglichkeiten einer exakten Bildwissenschaft und legte damit auch den Grundstein für die sogenannte Computerkunst unserer Tage, die auf ihre Art das Manifest von 1930 vollendet, nämlich die Werkzeuge für eine absolute, unpersönliche, messbare, konstruier- und berechenbare Ästhetik bereitstellt.
Das Fatale ist leider, dass der allgemeine Kunstbegriff des Publikums trotz aller Manifeste des 20. Jahrhunderts auf dem Niveau des 19. Jahrhunderts festgeklebt ist, d. h. nach wie vor die Mimesis, die Abbildung und Nachahmung der umgebenden Wirklichkeit sucht. Wie immer man diese Tatsache erklären und bewerten mag: Sie ist unter anderem für das Paradoxon verantwortlich, dass computergenerierte Bilder und Filme nach wie vor umso begeisterter aufgenommen werden, je täuschender sie die Wirklichkeit nachahmen.
Die Folgen
Ich werde Ihnen gleich erklären, warum ich mit diesem Exkurs in die Kunstgeschichte des letzten Jahrhunderts begonnen habe. Lassen sie mich aber noch schlaglichtartig die Folgen des Doesburgschen Manifests innerhalb der klassischen Malerei beleuchten. Konkrete Kunst im dogmatischen Sinn fand vor allem nach dem zweiten Weltkrieg seine Hauptvertreter mit den Schweizer Künstlern Richard Paul Lohse und Max Bill.
Richard Paul Lohse erklärt 1982 in einem vielfach zitierten Vortrag über „Kunst im technologischen Raum“, der ebenfalls Manifest-Charakter hat, dass einem Zeitalter der Technologie, in dem er sich fühlt, in der Kunst kein Irrationalismus oder Individualismus entsprechen kann. Vielmehr habe „keine andere Kunstform als die konstruktive innerhalb der visuellen Gestaltung einen so großen Anteil an der für unsere Zeit charakteristischen Erscheinung: [nämlich] dem strukturellen Denken.“ Allerdings ist seinem Text bereits die Resignation anzumerken, dass das Ideal der Konkreten jener bereits genannten Kluft zwischen der Elite progressiver Kunst und dem allgemeinen Kunstverständnis zum Opfer gefallen ist. Immerhin schrieb Lohse den Text mitten im Aufbruch der Neuen Wilden.
Ich habe diesen Strang kunsttheoretischer Ideologien - so muss man sie bezeichnen - aus mehreren Gründen an den Anfang gestellt. Während der Vorbereitung der Ausstellung, die, wie Sie vielleicht gemerkt haben, sich deutlich abhebt vom bisherigen Programm, stand eine Zeit lang unausgesprochen, dann auch ausgesprochen, der Begriff „konkrete Kunst“ im Raum, wurde sogar als Ansatz für einen Titel, eine Überschrift in Erwägung gezogen, bis Michael Riemann, langjähriger Kurator des Kunstprogramms in dieser Halle - und zu Unrecht mal wieder nur im Hintergrund sichtbar - feststellte: Der Begriff ist nicht vorbehaltlos auf die Arbeit der drei Künstlerinnen anwendbar.
Und wenn man, ausgehend von der reinen Lehre der konkreten Kunst, ihre Realisationen im Kunstbetrieb unserer Tage sucht, so muss man ehrlicherseits feststellen, dass die hundertprozentige Ausprägung dieser Gattung kaum existiert, selbst nicht in Galerien und Museen, die sich ihr programmatisch verschrieben haben. Hier in Mainz können Sie das z. B. an den Künstlern der Galerie Bergner und Job in der Großen Bleiche fruchtbar überprüfen.
Ich glaube, das Bedürfnis der Künstler nach Manifesten mit dem Anspruch universeller Geltung ist seit mindestens 30 Jahren erloschen, von der provokativen Kraftwirkung solcher Maximen ganz zu schweigen.
Madé, Toso und Andernach als „konkrete Künstler“?
Trotzdem reizte es mich, die Arbeiten von Guy Toso, madé und Martine Andernach vor dem Hintergrund dieser Folie zu betrachten und sie dann auch in Abgrenzung dazu zu definieren.
Außerdem, und dies ist der zweite Grund für meinen theoretisch-historischen Beginn, sollte man beim Reden über Kunst auch immer einen Schritt über das rein Beschreibende, das womöglich Biografische, das Anekdotisch-Kurzlebige hinausgehen, d. h. auch über die Tagesaktualität der Werke, wie sie sich jetzt im Moment einmal vor uns zeigen. Denn die Künstler, wenn sie gut sind und den Namen verdienen, denken weiter, als wir vielleicht meinen. Und wenn wir als Publikum uns der Bildenden Kunst anders nähern wollen, als die allgegenwärtige Eventkultur des Mitklatschens es nahe legt, müssen wir in den Diskurs eintreten, d. h. uns auch mit Theorien, Axiomen und Gesetzmäßigkeiten auseinandersetzen.
Nicht jedes Kunstprodukt ist dazu geeignet - hier offenbart sich möglicherweise eine Grenzlinie der Qualität - die Arbeit von Andernach, madé, und Toso ermöglicht diese theoretische Durchdringung, ja erfordert sie. Und das ist der dritte Grund für meine komplizierte Vorrede, die aber eigentlich schon die Hauptrede ist, sofern Sie mich verstanden haben.
Was ich also wissen möchte, ist:
Ist die Sprache der drei hier gezeigten Künstler universell oder individualistisch?
Kann man von einer inneren eigengesetzlichen Harmonik der Werke sprechen?
Ist ein Begriff wie „Autonomie des Kunstwerks“ auf sie anwendbar?
- Und da Sie, meine Damen und Herren, inzwischen schon leicht ermüdet sind, verändere ich den Lesbarkeitsindex meines Textes nach einer informationstheoretischen Formel, indem ich sowohl die Zahl der Worte pro Satz als auch die Zahl der Silben pro Wort drastisch reduziere -
Versuch einer gemeinsamen Analyse
Alle drei arbeiten mit einfachen geometrischen Formen. Das Viereck ist das am meisten verwendete Element ihres Vokabulars. Es tritt als unregelmäßiges Viereck auf, als Trapez, als Parallelogramm, als Rechteck, als Quadrat. In jedem Fall ist es berechnet und geplant, ist einfachstes konstruktives Element. Ein universelles Zeichen als Basis.
Das unregelmäßige Viereck von madé steht allein, ist ihr Fonds, ihr Background, ihre Bildebene. Die Quadrate von Toso kommunizieren miteinander. Sie überlagern sich und produzieren dabei neue Elemente, ebenfalls Rechtecke, aber auch Dreiecke. Die Kombination eines Quadrats und zweier Parallelogramme erweckt den Eindruck eines Würfels. Das Zusammenfügen von sechs Stahlplatten erzeugt einen tatsächlichen Würfel.
Die drei Künstler bezeichnen keine Flächen, sondern sie schaffen Körper. Dafür werden die flächigen Elemente zueinander in Beziehung gesetzt. So wie die Winkel innerhalb eines Vierecks messbar sind, ist es auch der Winkel zwischen zwei Flächen. Wenn sich so eine universelle Sprache formuliert, dann entsprechen die Flächen den Wörtern, die räumlichen Beziehungen zwischen ihnen bilden die Grammatik, und ein Körper ist ein ganzer Satz. Da die Sprache mechanisch konstruiert ist, wiederholen sich ihre Bestandteile. Sätze werden variiert, indem einzelne ihrer Elemente unterschiedlich kombiniert werden. Es ist möglich, dass die Konstruktionen in Baupläne übersetzt und von anderen realisiert werden. Bei Martine Andernachs Figuren ist dies erforderlich. madé und Toso setzen ihre eigenen Baupläne um.
Die Konstruktionen der Künstler folgen einer eigenen Gesetzlichkeit. Sie sind Realisationen abstrakter Gedanken und Vorstellungen und machen diese konkret. In den Gesetzen, die ihnen zugrunde liegen, liegt auch ihre Harmonie begründet. Martine Andernach borgt sich die Harmonie von menschlichen Maßen und Proportionen. madé verlässt sich auf die Horizontlinie. Sie ist ihre ruhende Basis und setzt sich durch alle Bildkörper fort. Guy Toso schafft Harmonie durch Spannung zwischen Antagonisten oder - bei den Geflechten - durch serielles Gleichmaß.
Die Begriffe der Sprache, der Universalität, der inneren Harmonik und Gesetzmäßigkeit sind also anwendbar auf die Werke in dieser Ausstellung. Ich habe versucht, Ihnen zumindest den Ansatz meiner Fragestellung aufzuzeigen. Sie können, wenn Sie wollen, die Analyse weiterführen.
Mikrostrukturen und Bezüge zur Realität
Es würde sich lohnen, die Mikrostruktur der Objekte zu untersuchen. Strukturdifferenzen innerhalb der Flächen von Guy Toso. Seine nuancierte Farbgebung. Die Farbdefinitionen von madé. Die räumlichen Effekte der Farbigkeit bei beiden. Die architektonischen Beziehungen innerhalb der Figuren von Martine Andernach und ihre Beziehungen zum Umraum. Die Gewichtsverteilungen. Die Wirkungen der Beleuchtung und die Bedeutung der Schatten. Und was verändert sich, wenn wir uns um die Objekte herumbegeben und den Standort wechseln?
Ein Aspekt fehlt noch in der Betrachtung, und hier entfernen wir uns von den Postulaten der konkreten Kunst. Sie haben es schon gemerkt: Wenn ich bei madé von Horizontlinien spreche und bei Martine Andernach von Figuren, dann haben wir die Autonomie des Kunstwerks verlassen. Es gibt Bezüge zur Welt außerhalb des Kunstobjekts, ganz klassisch und unübersehbar bei der Bildhauerin, etwas verhaltener bei madé. Martine Andernachs Arbeit ist Abstraktion im Wortsinn, gestützt auf außerordentlich genaue und treffsichere Beobachtung des Menschen, seiner Haltung und seiner Bewegung. Das Sujet von madé - zumindest bei den hier ausgestellten Arbeiten - könnte die Landschaft sein. Und von der Landschaftsmalerei, allerdings einer ganz reduzierten, kommt sie tatsächlich. Und Guy Toso? Können wir uns von den illusionistischen Raumeffekten in seinen Bildern freimachen? Wohl kaum, und das ist auch nicht notwendig. Denn wie gesagt, die Zeit der apodiktischen Manifeste ist vorbei. Es geht schon lange nicht mehr um puristische Zuordnungen und universell gültige Maximen.
Aber die Theorie kann hilfreiches Werkzeug beim Schauen sein. Das sollten wir bei aller Begeisterung nicht vergessen.
Ich danke Ihnen
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