Rede zur Eröffnung der Ausstellung Silvia Willkens und Rüdiger Krenkel in der Sparkassenakademie Schloss Waldthausen am 6. März 2002
Guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich weiß nicht wie es Ihnen ging, als Sie sich heute dieser Ausstellung von Silvia Willkens und Rüdiger Krenkel näherten und diesen Saal betraten. Vielleicht empfanden Sie ein Gefühl der Harmonie und gleichzeitig waren Sie überrascht von der Gegensätzlichkeit der beiden künstlerischen Phänomene, die eben dieses Gefühl auslösten. So ist es jedenfalls mir beim Besuch der Vorbereitungen ergangen, und nicht nur mir, auch die beiden Künstler und der Kurator Michael Riemann hatten diese Empfindung, und ebenso eine Journalistin, die zur Vorbesichtigung hier war.
Ein befreundeter Künstler schrieb mir kürzlich: „Eine gut arrangierte Ausstellung verschafft mir immer das Gefühl, in eine perfekt sitzende Jacke zu schlüpfen“ – eine treffende Metapher für das spontane, durchaus unerwartete Gefühl des Angenehmen, Vertrauten, Harmonischen, Passenden.
Warum überraschend? Nun, die beiden Künstler kannten sich bis zur Verabredung dieser Ausstellung nicht, die Kombination der Malerin und des Bildhauers wurde – in Waldthausen das übliche Verfahren – vom Kurator vorgeschlagen, und darin liegt immer ein Risiko – ästhetisch wie auch menschlich. Letzteres war schnell positiv erledigt, ersteres sehen wir hier zum ersten Mal vor uns, und das war für mich Anlass, einmal über die Empfindung der Harmonie nachzudenken.
Vom Wesen des Harmonischen
Harmonie ist Zusammenfügung einer Vielheit zur Einheit, Übereinstimmung, Anpassung der Teile eines Ganzen aneinander zu einer Ordnung, auch die Verbindung der Gegensätze in und zu einer Einheit, so die philosophische Begriffsdefinition, die sich zunächst auf das Phänomen beschränkt. Es ist damit nicht gesagt, welche die Gesetzmäßigkeiten für dieses Zusammenfügen von Elementen sind, und es ist auch noch nichts über die psychologische Wirkung der Harmonie gesagt. Wir werden beides heute Abend auch nicht erschöpfend klären können.
Soviel aber gleich vorweg: Harmonie wird sofort – und wurde schon immer durch die gesamte Geistesgeschichte – mit dem Begriff der Schönheit assoziiert, sei es nun die „objektive“ Schönheit, falls es so etwas geben sollte, oder einfach das persönliche Schönheitsempfinden. Ich zitiere als Beispiel Immanuel Herrmann Fichte, der in seiner „Psychologie“ 1864 erklärt: „Alles Schöne beruht... auf der innern Zusammenstimmung ('Harmonie') einer Mannigfaltigkeit von Teilen, durch welche die Teile zu einem geschlossenen Ganzen werden“.
Wir wissen alle, dass man mit diesem Denken viele Erscheinungsformen der Gegenwartskunst und der Moderne nur bedingt erklären kann. Aber ebenso bewusst ist uns, dass es ein Harmoniestreben gibt, dass Harmonie, Ordnung, Einheit, Schönheit als angenehm empfunden werden, zumindest strukturell, wobei die Kriterien dafür bei jedem einzelnen etwas anders sind, was zu fruchtbaren Disputen führen kann, aber auch zu erbitterten Gefechten. Die Auseinandersetzungen um die Kunst und ihre Hervorbringungen sind dafür beredtes Zeugnis.
Ich möchte ein weiteres behaupten: Das Harmoniebedürfnis ist hier und heute besonders ausgeprägt. Das mag an den unruhigen Zeiten liegen, es mag vielleicht auch am Alter liegen, dass mir das auffällt. Die Folge jedenfalls ist, dass eine Ausstellung wie diese spontan als angenehm, als erholsam und entspannend im besten Sinne empfunden wird. Sie wissen, ich plädiere immer für die Auseinandersetzung in der Kunst, für das Erarbeiten der Werke mehr als das sich in ihnen oder auf ihnen Ausruhen, für Dialog und Disput. Das wird uns auch gleich beschäftigen. Aber diese Auseinandersetzung wird von Rüdiger Krenkel und Silvia Willkens sowie vom Arrangement dieser Ausstellung nicht durch bizarre Formensprache, Provokation, heftige Gesten ausgelöst, sondern durch Harmonie – zwischen den Werken und innerhalb der Werke.
Harmonie ist hier also gelungen, und damit eine sofort spürbare Qualität, eine künstlerische Qualität, die in dieser Stadt immer schwerer durchzusetzen und durchzuhalten ist. Hier in Waldthausen wird dies allen Anfeindungen und Begehrlichkeiten zum Trotz immer wieder geschafft, das macht optimistisch und lässt einen alles Gezeter und Gekeife auf diesem lokalen Kunstmarkt vergessen, herzlichen Dank dafür an die Verantwortlichen.
Ars longa, vita brevis – Die Kunst währt lang, das Leben kurz. Dieser Satz bezieht sich beileibe nicht nur etwa auf die steinernen Zeugen unserer römischen Vergangenheit, auf die wir Mainzer so stolz sind, die wir aber immer wieder mit Zähnen und Klauen verteidigen müssen. Nein, die Weisheit liegt eigentlich in der Absage an die Überbewertung der Dinge des Lebens, des Alltags, gegenüber einer zumindest als Utopie idealisierten Dauerwertigkeit von Kunst. Der Kunst allgemein aber auch des Kunstwerks im Besonderen. Und auch hier drückt sich eine menschliche Sehnsucht aus: nach Dauerhaftigkeit, vielleicht Ewigkeit, Geistesgehalt und Idealen jenseits des alltäglichen Terrors im Kleinen und im Großen.
Sie merken, wir sind heute Philosophen, und aus Krugs „Handbuch der Philosophie“ sei – vorerst zum letzten Mal - eine Definition der Schönheit zitiert, die wir gerade in dieser Ausstellung überprüfen, und wie ich meine, auch bestätigt finden können. Wilhelm Traugott Krug schreibt nämlich 1820: Schönheit ist „diejenige Eigenschaft eines Dinges..., vermöge welcher es in dem Wahrnehmenden mittelst seiner Form eine Ahnung des Unendlichen im Endlichen erregt und eben dadurch das Gemüt belustigt“. Womit Belustigung natürlich damals nicht Amüsement bedeutete, sondern einfach Wohlgefallen.
Ich will mich auf die Suche nach diesem „Unendlichen im Endlichen“ machen und mich den Werken nähern.
Rüdiger Krenkel: Korrespondenz der Materialien
Rüdiger Krenkel, dessen Werktitel immer zwischen prosaischer Formbenennung und versponnenen Assoziationen hin- und herschwingen und auch aberwitzige Wortspiele hervorbringen, hat 1998 vor Zuschauern eine „Weinbergdrahttraube“ gewickelt. Anlässlich des sog. „Bad Dürkheimprojekts“ hat er an zwei Tagen mit einer Wickelmaschine unzählige Reste abgetakelten, rostigen Weinbergdrahts auf ein Rohr gewickelt, wie bei einer monumentalen Garnspule, so dass sich allmählich die Form einer Traube, zumindest einer Frucht, ergab.
Obwohl die Arbeit nicht hier ist, verdeutlicht die Geschichte doch einige Dimensionen in der Arbeitsweise des Künstlers. Erstens steht – in diesem Ausnahmefall sogar öffentlich – der Arbeitsprozess selbst im Mittelpunkt des Interesses. Der Entstehungsprozess ist ihm fast wichtiger als das Endergebnis. Seine Skulpturen und Plastiken sieht er als Ausdruck der eigenen Freude an der Bearbeitungsbewegung und am damit sich einstellenden Körpergefühl. Und sie lassen alle die handwerkliche Bearbeitung, den Körpereinsatz spüren, sei es der mit Kraft gebogene Rundstahl, seien es die vom Spitzmeißel im Granit hinterlassenen Furchen und Kerben, seien es die mit dem Beil aus dem Holz geholten Rundformen.
Zweitens ist dieser Arbeitsprozess sozusagen ein menschlich bewirkter Parallelvorgang zum organischen Wachsen, das man bei den Früchten mitdenkt und das man etwa in den hölzernen Fruchtsäulen oder der „Drei-Wellen“ genannten Stele besonders deutlich erleben kann. Durch die seitliche Herausarbeitung von Wellen aus dem Stamm bilden bei dieser Arbeit, die sich oben befindet, die Jahresringe zudem senkrechte konzentrische Muster, so dass auch das Wachsen der Natur noch einmal abgebildet wird.
Ein weiteres kommt hinzu: Die Materialien des Künstlers stammen sämtlich aus seiner Nähe, sind wie die Steine und Hölzer in seiner Umgebung entstanden, oder als übrig gebliebenes Produkt wie der „Westwallbunkerstahl“ oder der genannte Weinbergdraht von ihm vorgefunden worden. Durch die künstlerische Bearbeitung, Umarbeitung, entsteht ein neuer Begriff, man kann sagen: ein neues Wesen wird geschaffen, und damit ist der organische Verfall – die Endlichkeit – transzendiert und aufgehoben in einer Idee, von deren Ewigkeit wir überzeugt sind. – Das hält uns am Leben –
Diese Merkmale in der Arbeit Rüdiger Krenkels machen die erstaunliche und bei Bildhauern seltene Korrespondenz zwischen den drei benutzten Materialien aus, die übrigens – zumindest im Moment – nie miteinander kombiniert werden.
Die Weiterentwicklung von Grundformen
Nicht deutlicher hätte man diese Entsprechungen dokumentieren und geradezu greifbar machen können als durch die Anordnung der kleinen und großen Gebilde auf diesem ebenso einfachen wie genialen Podest, das uns die Früchte seiner Arbeit wie Kürbisse in einem Garten oder auf einem Tablett präsentiert. – Dass auch Zigarren dabei sind, freut mich ganz persönlich.
Durch Gegenüberstellung und Vergleich wird dabei auch das ganz allgemeine Formprinzip des Künstlers deutlich: Die Weiterentwicklungen der Kugel, ihre Abschnitte, ihre Einschnitte, Taillierungen, die zu bohnen- und nussähnlichen Formen führen, durch mehrfache Anwendung auch zu recht komplizierten Gebilden wie etwa einem Schneckenkörper oder einem „Wulst im Schlitz“. Ob Stein, Holz oder Stahldraht, d. h. ob massives Volumen oder Hohlkörper: die Bearbeitungsweise, die immer gleichartige dicht nebeneinanderliegende Streifenelemente aufscheinen lässt, wie etwa bei den Planken von Fässern oder Booten, erweckt den Eindruck, wir würden das Bauprinzip des Körpers vor uns sehen. Beim Draht trifft das zu, beim Holz und Stein ist dies vorgegaukelt.
Es stellt sich – jetzt wissen Sie es – beim Betrachten der Sammlung Harmonie ein. Aber eben keine Langeweile infolge Gleichförmigkeit, sondern Harmonie von Gegensätzen. Die Ordnung, die Prinzipien, die Strukturen und Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, damit sozusagen das Endliche, Konkrete auf höherer Ebene zu verstehen und zu generalisieren – diese Arbeit ist Kunstbetrachtung.
Ihr voraus geht die Naturbetrachtung durch den Künstler, die das Schaffen begleitet. Natur nachzuahmen allerdings ist nie seine Absicht, eher vielleicht, ihre Prinzipien zu ergründen.
Silvia Willkens: Kulturgeschichte
Der Naturgeschichte des Bildhauers Krenkel ist die Kulturgeschichte der Malerin Silvia Willkens gegenübergestellt. Sein Material ist konkret und naturnah, sie schöpft aus der Ikonographie von Jahrhunderten. Seiner Handwerklichkeit steht ihre Intellektualität gegenüber, seinen Grundformen ihre Manierismen. Wenn Unendlichkeit auch Zeitlosigkeit bedeutet, kommt der Bildhauer ihr durch Reduktion und Abkehr von allem alltäglichem Zierrat nahe, während die Malerin zunächst den umgekehrten Weg geht. Sie verarbeitet und kombiniert historische Phänomene der Kunst, Menschenbilder, die so nur in einzelnen Epochen entstanden sein können. Wie Folien legt sie diese Bilder übereinander und kommt auch so zu etwas, das wir die Idee des Menschen nennen können. Ein erstaunlicher und äußerst attraktiver aber ebenso entrückter Menschentyp entsteht dabei: Madonna der Frührenaissance und griechisch-archaische Götterfigur, androgyn, mit leicht asiatischen Mandelaugen, zeitlos, faltenlos, aber nicht eigentlich jung, vielmehr wissend und von äußerster Eleganz und Grazie. Wenn gelächelt wird, dann wie Mona Lisa.
Denn die Blicke dieser edlen Gestalten sind in sich gekehrt. Auch wenn sie uns treffen, gelten sie offenbar nicht uns, aber auch niemandem und nichts anderem, das wir möglicherweise sehen könnten. Diese Menschen sehen eine andere Zeit, eine andere Welt, und sie schauen uns aus einer anderen Welt an. Eine Kassandra ist darunter. Eine der Figuren blickt ins All. Und eine Astronautin, im Vergleich zu ihren Zeitgenossinnen in ungewöhnlich gemustertem Kleid, bereitet sich auf eine Fahrt ins Universum vor, das jenseits aller Vorstellungen liegt. Ohne Schwerkraft, schwimmend oder fliegend, haben zwei den Weg schon angetreten.
Die Gesten dieser Menschen, nur durch die Handhaltung auf einzelnen isolierten Tafeln gezeigt, sind teils unentschieden, wie auf halbem Wege angehalten, teils dezidiert und überlegt. Es mögen rituelle Gesten sein, die in dieser anderen Welt festgelegte Bedeutungen haben, aber sie werden nicht starr, sondern mit selbstverständlicher Geschmeidigkeit und Ruhe vollführt.
Zeit-räumliche Bestimmungen
Geometrische Körper finden sich da und dort. Eine Cranach-Eva hält statt Apfel einen Würfel. Aber sie ist ja auch „Erste Siedlerin“, d. h. sie baut sich ein Haus. In der Gemeinschaftsarbeit mit Heinrich Lessing, dem Stahlobjekt im Foyer, das auf dem gemalten Diptychon beruht, sind in den ausgeschnittenen Fragmenten mehr Details zu sehen: Treppen, Durchgänge, an archaische Paläste wie Mykene und Knossos erinnernd. Und der versonnene „Zeichner“ auf der Galerie hat vor sich eine Architektur aus Bogenformen. Auch diese Elemente können kaum zur Zeitbestimmung dieser Welt herangezogen werden, so allgemeingültig sind sie.
Ebenso versagt ein Versuch der räumlichen Definition. Die Treppe der Isis ist nicht benutzbar, jedenfalls nicht für uns. Die Menschen dieser Bilder stehen zwar in ihren Räumen, so deuten es zumindest die Füße an, teilweise in klassischem Kontrapost, aber die Bildräume, immer aufgeteilt in verschieden große Tafeln, entfalten sich in der Fläche, nicht in der Tiefe. Monochromie und modulierte Farbfeldmalerei tritt als Brechung und Verdeckung auf. Als ob wir vor dem völligen Eintauchen in diese verführerische Illusion bewahrt werden sollen.
Die flächigen Tafeln bestimmen die Farbstimmung der jeweiligen Arbeit, sie treten in dominanter Größe oder als kleine irritierende Ergänzung neben die kühlen Figurendarstellungen. Und darin, unter anderem, liegt bei diesen Bildern die Harmonie begründet.
Was uns jetzt noch fehlt, ist die Beantwortung der Anfangsfrage: Warum erleben wir nicht nur die einzelnen beiden künstlerischen Ansätze als anregend harmonisch, sondern auch ihre Kombination zum gemeinsamen Arrangement?
Nun, die Antwort liegt jetzt nahe: So unterschiedlich die beiden Arbeitsformen sind, so scheinbar gegensätzlich ihr Ausdruck – so ähnlich sind sie sich auch in ihrer ruhigen, anspruchslosen Selbstsicherheit, in ihrer Tiefe, ihrem Weitblick, gepaart mit Humor und Ironie. Für mich eine der schönsten Ausstellungen in diesem Hause.
Meine Damen und Herren, mein Zeitregime ist normalerweise 12 Minuten. Heute waren es mehr. Die Ausstellung war es wert. Es mag auch an den unruhigen Zeiten liegen. Oder am Alter. Auf Wiedersehen und vielen Dank.
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