Rede zur Eröffnung der Ausstellung Thomas Brenner in der „FormArt Galerie im KU/HOF“, Zweibrücken, am 30. Juni 2002
(gehalten direkt nach einem Spiel der Fußball-WM)
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
„Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ – Gerne hätte ich in einer anderen Situation so begonnen, aber in der Tat haben Thomas Brenner, das Team von FormArt und ich das Spiel noch vor uns. Lassen Sie mich also gleich einsteigen mit dem ersten Bild, das genau dort hängt, wo die Leinwand eben war. Sie brauchen den Blickwinkel nicht zu verändern. Das Bild heißt „Premiere“.
„Premiere“
Eine Wort wie „Premiere“ verstehen wir durchaus mehrdeutig, mehrgleisig. So wie „arte“ seit Jahren nicht nur das italienische Wort für Kunst ist, sondern mit einem Fernsehkanal verbunden wird – der sich im übrigen bei der Selbstbenennung genau auf jene Assoziationen zu Renaissance, Rotwein und Umberto Eco verlässt – so denken wir auch bei Premiere an alte und neue Medien gleichzeitig. Zunächst zur klassischen Begriffswelt.
Bei „Premiere“ fällt einem Theater ein, Uraufführung, etwas Festliches, Exklusives, etwas, bei dem man gern und ein wenig hochnäsig dabei ist, auch weil – und das klingt ebenso mit – man damit zu der Ersten gehört, die diesem Kulturereignis beiwohnen dürfen.
Wir besuchen also heute nicht nur eine „Vernissage“ – das heißt, glaube ich „Ausstellungseröffnung“ – sondern auch eine Premiere: also den selbstgestrickten Vereinsschal gegen die Designer-Krawatte ausgetauscht, schnell die in Tränen zerlaufenen Nationalfarben von den verschwitzten Wangen gewischt, die Gesichtszüge geordnet und statt urmenschlicher Begeisterung jetzt elegant-distanziertes Interesse aufgesetzt, auf frankophile Küsschen eingestellt und nicht mehr auf spontane Umarmungen mit Wildfremden, den Mund gespitzt für den Champagnerkelch, der den Bierhumpen ersetzt, und vor allem diskret geräuspert, um zu prüfen, was die Stimme jetzt noch hergibt, für small talk oder – in meinem Falle - heute sogar eine „Laudatio“, wie die Einladungskarte verspricht, nicht nur eine Einführung.
Nun hat Thomas Brenner heute keinen Titel errungen, keinen Preis und keine Meisterschaft gewonnen, aber ich bin natürlich des Lobes voll und freue mich im übrigen, noch einmal für ihn sprechen zu dürfen.
Ich hoffe, ich habe Sie zumindest geistig – im Sportdeutsch „mental“ – auf den würdigen Anlass eingestimmt und bitte Sie nun also zur „Premiere“. „Was wird gegeben?“ fragt der Theatergänger früherer Zeiten. Und ja, es ist offensichtlich Theater, was hier gespielt wird – auch im ironischen Wortsinn.
Requisiten
Ein Blick auf Kulissen, auf kostümierte Menschen, auf Requisiten. Mit Bühneninszenierungen hat man – zu Recht – des Photographen tableaux vivants häufig verglichen, auch mit Filmstills, Standfotos. Und in beiden Fällen hat der Betrachter eine angehaltene Situation vor sich, ein bisschen wie beim Dornröschenschlaf, und man phantasiert sich zusammen, was wohl vor dem Bild passiert ist und wie es weitergeht in der märchenhaften Szene.
Und bei Film und Theater bleiben wir in der Regel draußen, schauen aus dem Zuschauerraum in die inszenierten Welten. Bei dieser Premiere jedoch sind wir als Besucher selbst im Bild präsent. Was wir gerade tun, hier und jetzt, ist auch Thema der Fotografie, die wir vor uns haben.
Nun werden Sie sich nicht wiedererkennen in dieser Vernissagenversammlung, z. B. stimmt die Kleiderordnung nicht. Statt „men and women in black“ eine Uniformität in weißer Wäsche, einschließlich der “unaussprechlichen” langen Unterhosen. Aber diese Spiegelgesellschaft weiß ihre Kleiderordnung zu umgehen: Bunte Schals, gar Federboas, Hüte, Stirnbänder, Brillen, Schuhe zeugen von extravaganter Individualität, die von des Kaisers neuen Kleidern ablenkt.
Leicht exaltierte Posen begleiten das interessierte Betrachten. Betrachten wovon? An mit Rigips verkleideten und bereits verspachtelten Wänden eines exquisiten, altertümlichen und gerade in Renovierung befindlichen Museumssaales hängen große, vergoldete, wertvolle und wertstiftende Bilderrahmen, die nichts präsentieren als die Leere bzw. eine Ausschnitt aus eben jenen Rigipswänden – die übrigens für einen aufmerksamen Ästheten, und so einer ist Thomas Brenner, interessant genug scheinen.
Da stehen wir also, in Betrachtung und Gespräch vertieft, vor den leeren Bildern an der Wand. Und hinter uns – da kommen wir wieder zur Premiere im neuen Wortsinn zurück – da gucken Leute in die Bild-Röhre, fast gleich angezogen, nur ohne schmückende Accessoires. Ihr Objekt des Interesses ist ebenso gerahmt und ebenso leer. Auch das sind wir, und heute Nachmittag fast gleichzeitig.
Theater, Museum, Galerie, Fernsehen: alles gleich leer, bedeutungslos und eitel? Ein modernes Vanitas-Bild ist „Premiere“ bestimmt, auch mit dem klassischen „erkenne dich selbst“.
Aber der absolute Zynismus würde beim Künstler nur zur Selbstverleugnung führen, und dafür macht Thomas Brenner zu schöne Bilder. Auf unser Ankerbild komme ich noch zurück, es fehlt ja noch ein ins Auge springendes Element.
Maginot
Ein kurzer Blick – von mir: Sie selbst sollten da länger hinschauen – auf die zentrale Bildserie, mit der Brenner berühmt wurde, die Maginot-Linie. Ich habe vor zwei Jahren schon darüber gesprochen, deshalb nur einige Stichworte: Ein historisches Relikt aus Kriegstagen: Bunkeranlagen und Panzersperren, mittlerweile in idyllisch verwachsener Landschaft, dient dem Photographen als Theaterkulisse für einen modernen Totentanz. Menschen in extremen Kostümen und expressiven Posen, dramatisch beleuchtet und mit bizarren Requisiten ausgestattet, sind zu einer vielfigurigen Choreografie arrangiert, die wie eingefroren festgehalten wird. Teils dramatisch, teils komisch überzeichnet ergeben sich paradoxe Kombinationen aus den entlegensten Kulturfragmenten: Wahlkampf, Heiligenbilder, Tanzschulenprospekte, Feuerrituale ...
Ich habe dem Künstler damals eine postmoderne Selbstverständlichkeit im Umgang mit tradierten Ikonographien bescheinigt, die aber nicht von Unbekümmertheit geprägt ist, sondern im Gegenteil von ganz gezielter und bewusster Nutzung und Paraphrasierung von Bildformen und Bildgedanken, und teilweise so hintersinnig, dass sie auf Anhieb vielleicht gar nicht wiedererkennbar sind.
Seestücke
Da haben wir z. B. die beiden „Seestücke“. Wieder benutzt Brenner für den Titel einen überkommenen, mittlerweile schon ausdatierten Begriff mit ehedem festgelegter Bedeutung. Das Meer und die Küste als Sujet einer eigenständigen Gattung der Landschaftsmalerei, im 17. Jahrhundert entstanden und auch „Marinemalerei“ genannt.
Das „Seestück I“ zeigt ein Floß, nicht auf See, sondern auf einem, dazu ziemlich stillen See. Nackte Menschen darauf an modernen weißen Tischen und Stühlen schwingen überdimensionale Plastik-Gabeln und –Messer in Richtung von gefesselten aufblasbaren Puppen – jenen aus dem Sex-Shop. Bei aller Absurdität eine kannibalistische Szene. Und ich vermute dahinter jenes Bild von Théodore Géricault, das auf einem tatsächlichen Ereignis beruht und bis heute die Gemüter bewegt: „Das Floß der Medusa“ – jetzt im Louvre und übrigens am nächsten Samstag auf arte zu besichtigen. 1816 retteten sich 147 Menschen nach einem Schiffsunglück auf ein großes Floß, nach 13 Tagen wurde es mit nur 15 Überlebenden gefunden. Dazwischen lagen Meuterei, Gewalttaten, Kannibalismus. Ein schauriges Abenteuer, das den Maler zu einem dramatischen Bild inspirierte. Der Untertitel des genannten Fernsehfilms ist übrigens „Die Schönheit des Unglücks“, auch darauf kommen wir noch zurück.
Zunächst jedoch zum „Seestück II“. Als Bestrafung und Verdammnis der schuldigen, sündigen Menschen zeigt es sie rot eingefärbt wie blutbesudelt beim Eingang in die Unterwelt, die Hölle. Damit zitiert der Künstler alte Ikonographien in Umkehrung: Das Aufbrechen der Gräber und das Heraussteigen vermoderter Gestalten aus dem Staub auf dem Weg zum „Jüngsten Gericht“, zu finden in Gemälden dieses Themas in der italienischen Renaissance.
Und mit jenem letztgenannten Bildgedanken kommen wir wieder zurück zur modernen Kunstwelt. Es fehlt uns nämlich noch der Film als Quelle und Anspielthema von Thomas Brenner. Tote steigen aus den Gräbern: das kennen wir aus der „Nacht der lebenden Toten“ und zahlreichen Remakes.
Horrorfilme, Fantasyfilme ...
Und ein Blick zurück auf unser erstes Bild muss jetzt eine Figur ins Auge fassen, die auch als Requisite hier in der Ausstellung herumsitzt: Ein Riesenaffe, der auf einem Hochhaus sitzt und mit Flugzeugen spielt. [Redner setzt dem Affen eine Brasilien-Fan-Mütze auf]
Damals, bei King Kong, war es das Empire State Building. Die hier in der Fotografie angedeuteten Hochhäuser brauche ich Ihnen nicht zu deuten. Und plötzlich wird das Spiel todernst. Und Sätze wie „Die Schönheit des Unglücks“ klingen bitter. Und die „Premiere“ erhält eine weitere zynische Bedeutung.
Krieg war bereits präsent in den Ruinen der Maginotlinie, aber weit weg. Und in Anbetracht der deutsch-französischen Freundschaft wirklich weit weg.
Toastbrotscheiben auf der Fassade der Twin Towers – auch hier plötzlich eine Assoziation aus dem Wörterbuch des Unmenschen.
So locker und spielerisch wie sie scheint, ist die Welt des Thomas Brenner also gar nicht.
„Das Spiel dauert 90 Minuten“.
Wie lange das eigentliche Spiel dauert, wissen wir nicht.
Vielen Dank.
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