Rede zur Neueröffnung der „Bergner + Job Galerie“, Mainz, am 11. Oktober 2003
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Evelyn, lieber Alf,
Ihr habt mich, cool wie Ihr seid, sicher nicht einfach als weiteren Gratulanten eingeladen, oder?
Vielmehr bin ich heute als Kunst- und Medienwissenschaftler angekündigt. Das trifft zwar die Tatsachen, mag aber manchen überraschen. Ich will also einmal wissenschaftlich beginnen, damit aber auch das Fundament legen für Überlegungen, die sehr viel mit der Arbeit einer Galerie, dieser Galerie, zu tun haben.
Ich verstehe mich (insgeheim) immer als empirischer Sozialwissenschaftler – und damit ganz bewusst nicht als Kunsthistoriker – und als solcher ist für mich Wissenschaft nichts anderes als kritisch-experimentelle Praxis. Der Begriff stammt von Holzkamp, ist 30 Jahre alt, und was – in drei Teufels Namen - hat er mit dem Kunstbetrieb zu tun?
Ich will versuchen, es einfach auszudrücken: Empirische Wissenschaft heißt, aufgrund einer Theorie Hypothesen zu formulieren. Hypothesen sind Annahmen über Gesetzmäßigkeiten. Gesetzmäßigkeiten sind exakte Aussagen über Zusammenhänge innerhalb beobachteter oder beobachtbarer Phänomene.
Hypothesen müssen, um überprüft werden zu können, operationalisiert, d. h. in Versuchssituationen überführt werden, sprich: in Experimente. Die Ergebnisse des Experiments werden festgehalten und interpretiert, worauf die Hypothese bestätigt, verworfen oder korrigiert wird. Damit ist das Theoriegebilde ein Stück weiter entwickelt, und die nächste Hypothese, für das nächste Experiment, steht auf einer neuen Grundlage.
Wenn wir eine Ausstellung als Experiment in diesem Sinne sehen, und das Kunstwerk selbst ebenfalls, dann liegt der Schlüssel für eine Interpretation des Kunstbetriebs als experimentelle Praxis bereit, und die scheinbare Distanz zwischen Kunst und Wissenschaft ist vielleicht zumindest in der Analyse aufhebbar. Dass dazu Phänomene der konkreten Kunst, wie sie hier seit Jahren vorgestellt werden, ein besonders ertragreiches Feld sind, sei nur erwähnt, denn heute spreche ich nicht über die Werke, sondern über den Betrieb.
Und dabei habe ich versucht, Hypothesen zu erarbeiten. Zunächst eine augenfällige:
Bergner und Job arbeiten antizyklisch.
Betrachten wir nur die regionale Situation:
- In Zeiten, da andere Galerien schließen (auch auf Landesebene), sich auf den Kunsthandel verlegen, oder sich bereits vor Jahren entschieden haben, der Stadt und dem Publikum ganz den Rücken zuzuwenden ...
- In Zeiten, da die Handlungsfähigkeit eines Landesmuseums auf nahezu Null reduziert ist und es eine seiner Aufgaben, nämlich Gegenwartskunst zu präsentieren, nur noch als Gastgeberin für von anderen Seiten konzipierte und finanzierte Projekte erfüllen kann ...
- In Zeiten, da eine städtische Galerie – bisher und immer noch – ersatzlos geschlossen werden kann – ohne dass der zuständige Dezernent laut aufschreit ...
- In Zeiten, da eine kontinuierlich sich entwickelnde Kunstakademie, die soeben endlich den Status der Autonomie erkämpft hat, diesen durch scheinbare Rationalisierungsmaßnahmen bereits wieder verlieren soll ...
- In Zeiten, in denen die Kunstberichterstattung der Fernsehanstalten sich auf spekulative Events reduziert und über die Kompetenz des lokalen Feuilletonchefs [Auslassung] ...
- ... In diesen Zeiten verlegen sich zwei seit Jahren konsequent und unermüdlich arbeitende Galerien nicht aufs Klagen und Lamentieren, sondern setzen mit dieser Neu-Eröffnung einen positiven und mutigen Akzent.
Nun waren es einmal zwei Galerien, Bergner und Job, jetzt gibt es nur noch eine, also eine weniger. Also doch nicht antizyklisch?
Nun, und das ist kein wohlfeiler Spruch, sondern gründet sich auf meinen Eindruck aus vielen Gesprächen mit Alf und Evelyn aus den letzten Monaten: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Ich sehe einen wirklichen großen Sprung nach vorn vor uns - und natürlich auch nach oben, denn es gibt jetzt einen Fahrstuhl!
Aber zurück zur Analyse der Situation. Haben wir mit den eben zugespitzt aufgezählten Thesen wirklich die Situation getroffen?
Kunstmarkt und Publikumsinteresse
Über die generelle wirtschaftliche Situation auf dem Kunstmarkt möchte ich mich heute nicht äußern. Wenn ich allerdings die Erfolgsbilanz einzelner Künstler oder auch die Verkaufszahlen bestimmter Ausstellungsereignisse betrachte, scheint mir, dass nach wie vor Kunst gekauft wird, und nicht wenig.
Weiterhin, und das steht natürlich damit im Zusammenhang, finde ich nach wie vor in dieser Stadt und dieser Region ein erhebliches Interesse an Gegenwartskunst vor, abzulesen an Besucherzahlen und geäußertem Zuspruch bei Kunstereignissen, die wirklich Qualität bieten, z. B. im Ausstellungsprogramm der städtischen Galerie der letzten Jahre, im Haus Burgund, bei „3x klingeln...“ und bei manchen temporären Ausstellungen. Dieses Bedürfnis drückt sich mittlerweile allerdings nur noch in einem verdursteten Lechzen aus, denn das Angebot kommt nicht nach.
Und das Angebot wird leider nach wie vor zu großen Teilen durch Kulturpolitik bestimmt, die nicht nur die Finanzierung, sondern vor allem das Klima, die kulturelle Atmosphäre einer Region garantieren sollte. Und hier erleben wir als traurige Spezialität unseres Landstrichs ein hohes Maß an Inkompetenz und Ignoranz, die leider auch nicht durch die Gutwilligkeit mancher engagierter Einzelpersonen ausgeglichen wird. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich spreche über die Stadt und das Land, über alle Parteigrenzen hinweg.
Chancen für gute Kunst
Ist also, und damit komme ich zurück auf das heutige Ereignis, die Neueröffnung einer Galerie ein Zeichen in Richtung Privatisierung des Kunstbetriebs? Müssen frei finanzierte Betriebe für kulturelle und Bildungsaufgaben einspringen, deren Bedeutung von unseren Politikern nicht mehr wahrgenommen wird?
Die Galerien tun es bereits, seit Jahren. Und sie halten, und dabei möchte ich die Wiesbadener Kollegen ganz deutlich miteinbeziehen, mit großer Mühe ein künstlerisches Angebot in dieser Region aufrecht, das ohne sie endgültig in die Provinzialität versinken würde.
Meine verzweifelte Hypothese also ist: Es gibt eine Chance für gute Kunst. Ein Experiment, an dem sie überprüfbar ist, haben Sie heute vor sich. Den Galeristen und uns allen wünsche ich einen glücklichen Ausgang und damit viele weitere Experimente.
Vielen Dank.
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