Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Tidenhub" des Blaumeier-Ateliers, Frankfurter Hof, Mainz, 5. Juli 1997
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
sie sind heute mit zwei Ausstellungen unter einem Dach konfrontiert. Die eine, oben auf der Galerie, zeigt Fotografien von Olaf Schlote, die eine bemerkenswerte Kunstreise dokumentieren: "Die Blaue Karawane", angeführt vom blauen Kamel, und bestehend aus vielen, vielen Menschen, die mit ihm durch Deutschland reisten und da und dort Station machten, wie eine altertümliche Schaustellertruppe, fahrendes Volk, um Musik, Theater, auch einmal ein öffentliches Frühstück anzubieten und die für kurze Zeit überall einmal die Welt auf den Kopf stellten. Denn die Beteiligten haben sich vielleicht nicht ganz so unverbindlich verhalten wie der Passant, dem man alltäglich auf der Straße begegnet.
Die blaue Karawane
Olaf Schlote zeigt uns hier Impressionen von dieser Reise, wir erkennen Szenen aus dem Theaterstück "Fast Faust", das auch nach Mainz kommt, und wir sehen natürlich immer wieder das Blaue Kamel. Was die Bilder aber hauptsächlich zeigen, ist eine Begegnung von Behinderten und Nichtbehinderten, von Menschen mit und ohne psychiatrische Erfahrung oder wie der politisch korrekten Umschreibungen mehr sind. Sagen wir so: Menschen aller Art mischen sich, Menschen mit verschiedenen Erfahrungswelten, Wahrnehmungsweisen, Ausdrucksweisen. Und das macht nachdenklich, aber es macht auch Spaß. Das alles ist den Bildern des Photographen anzumerken.
Wer je die Chance hatte, mit Menschen, die unsere Welt so extrem anders wahrnehmen und auf sie reagieren, zu sprechen und ihnen zuzuhören, hat mit Sicherheit erlebt, wie faszinierend einfach unsere Welt gesehen werden kann, wie faszinierend komplex sie erscheinen kann, und vor allem: daß es sehr viele Arten von Intelligenz gibt. Das bleibt für einen selbst nie ohne Folgen und kann zu einer ganz zentralen Erfahrung im Leben werden. Leider ist diese Chance, bedingt durch das nach wie vor perfekt organisierte Verwahrungssystem, nur wenigen gegeben.
Einen tragenden Part in dieser Blauen Karawane hatte das Blaumeier-Atelier übernommen, und dies ist die zweite Ausstellung, in der wir uns gerade befinden. Die Geschichte des Ateliers ist schon recht umfangreich, viele Daten wären zu nennen, aber das lesen Sie lieber in den hier verkauften und sehr empfehlenswerten Publikationen nach.
Das Wichtigste in einem Satz: Im Blaumeier-Atelier in Bremen treffen sich etwa 200 Menschen, arbeiten zusammen und machen Kunst. Es ist also eine Künstlergruppe mit Menschen unterschiedlichster psychischer Realitäten. Und: Die Künstler treten gemeinsam auf und stellen professionell aus wie hier, ohne daß zwischen Behinderung und Nichtbehinderung, falls es eine Nichtbehinderung überhaupt geben sollte, ein erkennbarer Unterschied gemacht wird. Was sie also ablehnen, ist eine Therapeutisierung der Kunst, ist eine Degradierung der Kunst zum therapeutischen oder diagnostischen Vehikel.
Keine spezielle Art von Kunst
Sie tun damit eigentlich einen Schritt zum autonomen Kunstwerk, und dieser Schritt ist, auch wenn er vielleicht zuerst nur aus einem spontanen, selbstbewußten Gefühl der Stärke heraus getan wird, sehr groß.
Bedeutet er doch, daß ich als Künstler verlange, daß die Menschen meine Kunst wahrnehmen und akzeptieren, ohne mich selbst zu kennen. Daß sie sie nicht mißbrauchen, um hinter meine Persönlichkeit zu schauen - "meine Seele behalte ich für mich", lautet die Maxime eines Beteiligten. Daß sie sich nicht zufriedengeben mit biografischen Erklärungen, wenn sie meine Kunst verstehen wollen.
Und dieser Anspruch bedeutet auch, daß Kunst nicht als Beschäftigungstherapie mißverstanden wird, weder für den Künstler noch für das Publikum und auch nicht für die Kunstvermittler. Auch das Wort "Freizeitgestaltung", das der Herr Ministerpräsident in seinem Grußwort im Programmheft benutzt, sollte, denke ich, für andere Betätigungsfelder reserviert bleiben, und trifft auf manche Ausstellungen der organisierten Professionellen eher zu.
Sie merken, meine Damen und Herren, ich spreche gar nicht über eine spezielle Art von Kunst, sondern über den alltäglichen Umgang mit ihr. Das Blaumeier-Atelier zeigt - einfach, indem es so auftritt - einen Weg zur Kunst an sich. "Das blaue Kamel ist uns immer einen Schritt voraus", sagte ein Teilnehmer der blauen Karawane.
Ist jeder Mensch ein Künstler?
Nun könnte man sich auf einen allumfassenden humanen Standpunkt zurückziehen und sagen: Jeder Mensch, jeder einzelne, hat künstlerische Begabungen, die soll er doch ausleben und die Ergebnisse allen anderen zugänglich machen. Das hört sich ja zunächst richtig an und wird auch zur Genüge praktiziert. Man könnte dann vielleicht noch Joseph Beuys zitieren mit dem immer zitierten und wohl vielen Menschen einzigen bekannten Satz, nämlich, daß jeder Mensch ein Künstler sei. Das könnte dann als Rechtfertigung dienen für den bisweilen - auch gerade in Mainz - sehr fahrlässigen öffentlichen Umgang mit den Begriffen "Kunst" und "Künstler".
Gerade darum geht es aber nicht. Der Satz von Beuys ist nämlich anders gemeint - und das ist ohne große Mühe in allen seinen Reden und Interviews nachzulesen. Der Satz meint nicht die Kunst der Museen und Galerien, sondern die Gesellschaft, den sozialen Organismus als ganzes. "Jeder Mensch ist ein Künstler" heißt: Jeder Mensch wirkt an der Gestaltung dieses gemeinsamen Ganzen mit, ob an seiner Arbeitsstelle, in der Fabrik, in seiner Familie, in der Schule, im Gespräch mit anderen, in gesellschaftlichem Engagement oder einfach, indem er die Ergebnisse seiner eigenen, individuellen kleinen Werkstatt zur Diskussion stellt. Dieser Gedanke ist für den Umgang mit sogenannten Behinderten und darüber hinaus von zentraler Bedeutung, aber ich denke, er wird auf diesem Festival ausgiebig thematisiert werden.
Was das Blaumeier-Atelier angeht, so liefert dieses seinen Beitrag zu unserer Welt durch Kunstwerke im klassischen Sinne, und verändert dadurch unsere Welt, denn die Welt ist jedesmal ein kleines bißchen anders geworden, wenn ein neues Kunstwerk dazukommt. Neue Arbeiten von elf Künstlerinnen und Künstlern sind hier versammelt, und sie vertreten klassische, geradezu traditionelle Sujets. Wir finden Porträts, Landschaften, Akte, Figurenbilder und gegenstandslose Werke. In ebenso klassischen Techniken wie Acryl, Dispersion und Mischtechniken, auf Papier, Hartfaser und Leinwand, dazu eine Reihe von Metallplastiken.
Mir reicht die Zeit nicht, um auf jeden einzelnen Künstler einzugehen, und jede gute Gruppenausstellung macht es einem Kritiker schwer, Gemeinsames und Übergreifendes zu formulieren. Eine Bemerkung in einem Katalogartikel aber fand ich sehr überzeugend: "Den Werken fehlt die Ängstlichkeit, die so oft bei Laienkunst zu spüren ist." Man kann es auch umgekehrt formulieren: Die Werke treten mutig und selbstbewußt auf uns zu. Das ist der Mut professioneller, leidenschaftlicher Künstler.
Ich hätte mir diese Ausstellung in der städtischen Galerie im Brückenturm gewünscht, ohne den schützenden Mantel des Lebenshilfe-Festivals, aber das kann ja noch kommen. Gute Kunst braucht keine Saalmiete zu zahlen.
Für Binnenlandbewohner noch ein Wort zum Titel der Ausstellung "Tidenhub": Tidenhub bezeichnet den Abstand zwischen der tiefsten Ebbe und der höchsten Flut. Die tiefste Ebbe und die höchste Flut werden nur in je einem Moment erreicht, dazwischen steigt der Wasserspiegel und er sinkt, und steigt, und sinkt, und steigt, und sinkt.... Und unsere Arche Noah, die wir Erde nennen, schwankt und dümpelt darauf mit. Loten Sie die Tiefe aus, meine Damen und Herren, und versuchen Sie Ihre Position zu bestimmen.
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