Rede zur Eröffnung der Ausstellung Pierre-Yves Magérand im Maison de Bourgogne Mainz, am 8. Juli 2004
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
eigentlich überflüssig zu sagen: Sie befinden sich in einer der ungewöhnlichsten Ausstellungen, die je im Haus Burgund stattgefunden haben, mehr noch: die beiden hier gezeigten Arbeiten von Pierre-Yves Magérand stellen in ihrer extremen formalen Reduktion und der Beschränkung auf einfachste Materialien fast alles in den Schatten, was in Mainz bisher zu sehen war.
Sie sind allerdings Traditionen der Moderne verpflichtet, die man mit einigen Stichworten zumindest ab und zu benennen sollte: Expansion: vom einzelnen, überschaubaren Kunstobjekt zur Einbeziehung des ganzen Raumes. Grenzüberschreitung: z. B. der Grenzen zwischen den klassischen Disziplinen wie Malerei und Bildhauerei oder auch der Grenze zwischen Werk und Betrachter. Einbeziehung der Zeitdimension: durch Momente der Aktion, die hier provoziert wird. Kunst im Kopf: durch Verlagerung eines erheblichen Anteils des Werks in den Bereich der Konzeption.
Genau darum, um diese gedankliche Arbeit, muss es naturgemäß in einer Einführung gehen. Versuchen wir es also.
Manche kennen Pierre-Yves Magérand vielleicht noch vom letzten Sommer. Er war von uns zur vierten Ausgabe der Neustadt-Biennale "...3x klingeln!" eingeladen worden und zeigte seine "espaces potentielles", die wie ungewöhnliche Architekturmodelle aussahen, in einer Wohnung in der Adam-Karillon-Straße.
"espaces potentielles" taucht in den Ankündigungen dieser Ausstellung auch fälschlicherweise wieder auf. Allerdings deutet dieses Stichwort auf eine Arbeitsweise des Künstlers, die auch hier und heute zum Tragen kommt. Magérand hat sich nicht damit begnügt, aus Dijon bestehende Arbeiten mitzubringen und sie einfach auszustellen, er hat spezielle für diese nicht ganz einfach zu bespielenden Räume in einem ehemaligen Ladenlokal zwei Installationen entwickelt, die Form, Nutzung und Geschichte des Etablissements reflektieren.
Raumbezogene Kunst wird ihrem Namen am ehesten gerecht, wenn die vom Künstler vorgelegte Gestaltung, besser: der künstlerische Eingriff sehr reduziert ist. Durch eine kleine Zutat, eine Ergänzung, eine Hervorhebung oder auch eine Störung verändert sich der Raum, genauer: unser Erleben des Raums.
In diesem Fall ist der Raum selbst, sind seine Form, sein Licht, seine Farben, seine Möblierung usw. physisch noch nicht einmal vom Künstler berührt worden. Aber Magérand greift nach unserer Wahrnehmung des Raumes. Er stellt mit diesen Filzsohlen ein Erfahrungsinstrument zur Verfügung, das uns eine neue Sinnesqualität eröffnet. Er stellt unsere Raumwahrnehmung sozusagen "auf die Füße".
Das "Erfahren" des Raumes erhält eine neue, doppeldeutige Dimension. Worauf wir normalerweise herumstehen, was wir unbedacht betreten oder eilig durchqueren, wird zur Gleitfläche und lässt Assoziationen zu allen Formen der weichen, fließenden Fortbewegung zu: Eislaufen, auf dem Eis glitschen, Skaten, Skifahren, rutschen, alles lustbetonte, spielerische Arten der Bewegung, jenseits unseres täglichen Trotts.
Und mit der Veränderung unseres Bodenkontakts verändert sich auch der soziale Raum. Man begegnet sich anders, wenn man aufeinander zu gleitet, nimmt sich und die anderen nicht mehr ganz ernst. Wir sind hier alle Teil eines Spiels, das der Künstler veranstaltet. Und schon erscheint auch das Leben in diesem Raum jenseits der Vernissage ein bisschen wie ein Spiel: die Besprechungen, das Eintreffen von Besuchern, die Schreibtischarbeit im Hintergrund, der Alltag im Haus Burgund.
Werden diese Filzsohlen auch das hektische Klappern von Absätzen dämpfen? Werden die hier schaffenden schnellen Damen sich auf die Verlangsamung der Schritte einlassen?
Diese ganze sozialpsychologische und kulturelle Inszenierung Pierre-Yves Magérands hat noch eine andere Dimension. Jeder kennt die Filzpantoffeln aus Schlössern und altertümlichen Museen, die der Besucher überstreifen muss, um das Parkett oder die historischen Böden zu schonen. Eine museale Nebensache, auch nicht ohne Spielwert, aber so unbedeutend wie die Eintrittskarte, das Schildchen an den Ausstellungstücken oder die Aufsichtführenden.
Indem die Erinnerung an dieses unkünstlerische Detail aus dem Museumskontext zur Hauptsache erklärt wird, verändert sich unser Raum noch einmal. Er wird zum Museumsraum. Und tatsächlich finden sich darin einige wenige klassisch daherkommenden Werke: drei kleine gerahmte Bilder. Aber diese Skizzen stellen nichts anderes dar als Visualisierungen, Vorwegnahmen der Situation, die ich bereits charakterisiert habe und die das eigentliche Kunstwerk ist.
Insofern - und hier eröffnen sich geradezu philosophische Perspektiven - ist das Kunstwerk selbstreferentiell, bezieht sich auf sich selbst. Magérand sagt: Seht her, Ihr betretet jetzt ein Museum, einen Ausstellungsraum, aber das Werk, das ich Euch zeige, besteht genau in diesem Moment des Betretens. Der Kontext, das Drumherum ist mein Thema, und Ihr als Besucher gehört dazu, werdet sozusagen im Werk gespiegelt.
Noch etwas: Vergessen wir nicht das Material. Seit Beuys kann man Filz in der Kunst nicht mehr ungestraft benutzen. Filz, ein Material fast so alt wie die Menschheit selbst, ist der große Isolator. Er dämpft den Lärm - z. B. der Schritte - und er bewahrt die Wärme. Bei Magérand hat er eine Doppelnatur: Er isoliert uns vom Raum, ist eine Zwischenschicht zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, aber gleichzeitig ermöglicht er uns das Ergleiten, Erfahren eben dieses Raumes. Insofern ein Anfang der Annäherung, der Einigung mit eben diesem Raum (ich beziehe mich auf den Titel), eine Einladung, und die Assoziation zu Filzpantoffeln und heimischer Gemütlichkeit klingt auch an.
Zum Schluss noch ein Block nach draußen: Die Arbeit "Überraschende Stille" im Schaufenster hat einen grundsätzlich anderen Charakter. Es handelt sich um eine Gruppierung vom Künstler gestalteter Objekte, da dreidimensional, im weitesten Sinne um Bildhauerei. Sie befinden sich hermetisch abgeschlossen hinter Glas, erwarten keine körperliche Beteiligung unsererseits, wollen und können nur betrachtet werden.
Auch diese Elemente sind ärmlich im Material, sind keine Zeugnisse hoher Handwerkskunst, sondern Zweckobjekte, dazu noch unfarbig, schlicht. Auch hier also offenbar "Kunst im Kopf". Als Aufsteller wie Preisschilder - ein bezug zur ehemaligen Nutzung dieses Ladengeschäfts - tragen und demonstrieren sie eine Form, die uns sofort aus dem Kontext der Bilder in die Sphäre der Sprache, der Schriftsprache versetzt. Ein Buchstabe wird uns zur Reflektion vorgezeigt, das E, im Deutschen der häufigste, im Französischen weiß ich es nicht, aber für beide Sprachen gilt: Wir können nicht sinnvoll sprechen und schreiben, ohne das E zu benutzen. Das ist viel wichtiger als Alpha und Omega, das ist der strukturbildende Buchstabe schlechthin.
In diesem Schaufenster, diesem "Aquarium", wie es auch genannt wird, steht er allerdings stumm da, ist eher Symbol des Stotterns, der Sprachlosigkeit als der Eloquenz, vielleicht ein Wortanfang.
Und er verspricht inmitten einer von Schrift, Bildern, Farben, Lärm und Kommunikation überfluteten urbanen geschäftigen und geschäftlichen Umgebung einen Moment der "plötzlichen, überraschenden Stille". Ein Gegenbild.
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