Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Material: Papier" im Goethe-Institut Brüssel, am 27. März 1996
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Die Ausstellung, die wir heute Abend eröffnen, hat eine Geschichte und ist in einem ganz konkreten Zusammenhang entstanden. Den möchte ich Ihnen gern erklären. Die Ausstellung ist ein Kind einer anderen Ausstellung, man könnte auch sagen, eine Zuspitzung oder gesteigerte Version dieser anderen Ausstellung. Ich spreche von der Ausstellung "Paperworks", die morgen Abend im Verbindungsbüro des Landes Rheinland-Pfalz eröffnet wird. "Paperworks", der Titel deutet es an, bezieht sich ebenfalls auf Papierarbeiten - also Arbeiten auf Papier -, allerdings werden dort auch Fotografien und Zeichnungen gezeigt, von 16 Künstlern.
In den Vorgesprächen in Brüssel entstand dann der Wunsch, Papier als Träger oder Grund des Kunstwerks einmal außer acht zu lassen und sich ganz auf die Materialqualitäten des Papiers zu konzentrieren. Das Goethe-Institut gab uns die Chance, sich mit Papier auf großen Wänden in großen Räumen auszutoben. Und so entstand diese zweite Ausstellung. Was Sie hier also sehen, sind fünf Werke, Installationen, von fünf Künstlern, die sich speziell auf diese räumlichen Bedingungen eingelassen haben und Arbeiten für genau diesen Ort entworfen oder arrangiert haben.
Sie haben vielleicht bemerkt, dass alle fünf Künstler aus Mainz stammen. Mainz ist die Stadt Gutenbergs, des Erfinders der Druckkunst, und Mainz hat folglich eine ganz besondere Beziehung zum Material Papier. Über Papier als Material werden wir also heute sprechen.
Gerd Stegner
Und hier taucht schon die erste Frage auf. Als Sie das Haus betreten haben, leuchtete Ihnen die große, vielteilige Wandgestaltung von Gerd O. Stegner entgegen. Und Sie haben sich gefragt: Ist das wirklich Papier?
Nun, es ist Papier - wenn auch nicht ausschließlich -, Packpapier, auch Pappe und Karton, aber auch Draht, Klebstoff, Holz, Pigmente und Bindfäden. Gerd O. Stegner hat geradezu gegen das Papier gearbeitet, hat es verklebt, vernäht und übermalt, hat es damit geradezu versteckt. Papier ist nicht mehr wiederzuerkennen, oder besser: das Papier, das wir aus dem Alltag oder auch aus den klassischen künstlerischen Techniken kennen, ist nicht mehr zu erkennen. Dafür aber gibt es neue Qualitäten zu entdecken: Oberflächen, Volumen, Reliefs, Symbiosen von einander fremden Materialien.
Was wir vor uns haben, ist eine Bildwand, die ebenso als Gemälde wie als Plastik aufzufassen ist, und deren Strukturen den Prinzipien der Collage ebenso verwandt sind wie den Fragestellungen konstruktiver Malerei.
Christiane Schauder
Viel näher zum Begriff der Malerei und auch zur üblichen Verwendung von Papier befindet sich dann Christiane Schauder. Ihre Bildwand kann man getrost als Gemälde bezeichnen. Aber wo sind hier Anfang und Ende? Wo sind die Bildgrenzen nach oben, nach unten und zu den Seiten? Christiane Schauder hat Bildrollen hergestellt, Rollenbilder, die eine Wand bedecken. Sie verlassen aber auch diese Wand, ragen über sie hinaus, laufen auf dem Boden aus. Papier, scheinbar endlos von der Rolle laufend, ist flexibel, passt sich den Flächen an, die es bedecken soll.
Die Fläche, die von den Papierbahnen gebildet wird, formt ein kleines Universum. "Nah und Fern" ist der Titel der Arbeit, und damit wird auf die Aufforderung zur Bewegung angespielt, zur Bewegung auf das Bild zu und vom Bild weg. Und selbst wenn man den Abstand zu diesem Universum nicht verändert, beginnt es sich selbst zu bewegen. Was nah erscheint, kann plötzlich wie von fern wirken und umgekehrt. Das Gesichtsfeld ist nicht festgelegt, nicht begrenzt. Wie auf einer entrollten Sternkarte erscheint nur ein Ausschnitt, gleichzeitig zufällig und geplant.
Angela Tonner
Einen anderen Weg geht Angela Tonner. Bei Ihren Konstruktionen verschmilzt das Papier mit der Farbe. Japanpapiere werden eingefärbt und dann auf Stoff aufgezogen, der wiederum auf Holzplatten oder Rahmen fixiert ist. Durch diese Technik geschieht zweierlei: Papier wird selbst Farbe, die als Material auf der Fläche organisiert wird. Und zweitens verschwindet wie bei Stegner der Charakter der Leichtigkeit von Papier, ist nur noch vage spürbar. Es entstehen solide flache Körper als Ausgangselemente für größere Flächengestaltungen.
Angela Tonners Elemente benutzen konstruktive Formen und wolkige, im Entstehungsprozess nicht exakt vorher bestimmbare Farbnuancen, um Räume zu schaffen. Das "Nah und Fern", das "Davor und Dahinter" nimmt hier klare geometrische Dimensionen an. Aber auch innerhalb dieser Bildräume wechseln die Perspektiven, bilden sich Horizonte, Fluchtpunkte und Grenzlinien in jedem Moment neu. Im nächsten Schritt, wenn die Tafeln wie hier auf einer Wand arrangiert werden, werden die Raumbeziehungen noch komplexer, sind die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Elementen unzählbar, entstehen die vielfältigsten Liniengeflechte.
Sandra Heinz
Benachbart dazu sehen Sie "echte" Körper, handfest greifbare Kästen, die Kartons von Sandra Heinz. Hier tritt das Papier in seiner kräftigeren Form auf, als Pappe. Und der Bezug ist hier nicht so sehr das Papier, auf dem gedruckt, geschrieben und gezeichnet wird, sondern die andere Verwendung dieses Alltagsmaterials steht im Hintergrund: Papier als Verpackung. Und damit ist eindeutig der Bereich der Plastik betreten.
Betrachten wir die Farbe: Sie tritt zurück. Weiße Gipsbinden bedecken alle Oberflächen, neutralisieren alle Kästen zu einer einheitlichen Sorte. Die Reihung gleichgroßer Kästen betont weiterhin ihre Anonymität. Ohne Farbe, ohne Individualität konzentriert sich die Philosophie der Kiste nach Sandra Heinz auf ihre Körperhaftigkeit. Innen und außen, oben und unten, Deckel und Boden, Klappen und Wände werden vorgeführt und thematisiert. Auch hier wird dem Papier die Leichtigkeit genommen. Die Künstlerin beschwert es sogar mit einem klassischen Bildhauermaterial, dem Gips.
Robert Schwarz
Den Schlußpunkt und einen weiteren, ganz anderen Aspekt der Arbeit mit Papier bildet ein Werk, das - oberflächlich betrachtet - in einer traditionellen Form auftritt: Ich spreche von dem monumentalen Buch "Hölderlin: Empedokles" von Robert Schwarz, das wir in diesem Kabinett zeigen und das dort wie "das Buch der Bücher" aufgeschlagen liegt wie in einem Chor.
Bücher schaffen seit alters her Ordnung über Texte, Bilder treten hinzu und machen die Zielsetzung der Aussage augenscheinlich und sinnfällig. In diesem Künstlerbuch vermischen sich Texte und Bilder, falls man diese Begriffe überhaupt benutzen sollte. Gleichzeitig tritt uns noch einmal eine große Variation vieler bisher beschriebener Verwendungen von Papier entgegen: Collage, Alltagspapiere, farbige Papiere, Übermalungen, dazu die druckgraphische Technik der Lithographie und der gedruckte Text nach dem Hölderlin-Entwurf von 1799. Wie in einer textkritischen Ausgabe die verschiedenen Fassungen und Korrekturen, so überlagern sich auf den Bögen Fragmente und Fundstücke, treten in einen Dialog, entwickeln Farbstimmungen, bilden ein geradezu archäologisches Grabungsfeld.
"Wer das lesen könnt..." - zitiert Enzensberger in der "Flechtensprache" Büchners Woyzeck. Wer das lesen könnt, der hätte die Welt gewonnen. Und so kommen wir am Ende dieses kurzen Rundgangs zurück auf das Buch. Das Buch als Objekt und als Plastik, spürbar ausgedrückt im Begriff "Volumen", englisch "volume", was einen Buchband meint und den Körper bezeichnet. Das Buch als Raum.
"Wer das lesen könnt...!" - Bitte lesen Sie, meine Damen und Herren.
Vielen Dank.
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