Rede zur Ausstellungseröffnung von Claudia Poeschmann in der evangelischen Kirche in Hochheim, am 6. April 1997
Die Himmelstreppen von Claudia Poeschmann
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Claudia,
weniger über das, was Sie sehen, möchte ich heute sprechen, als über Hintergründe und Quellen dessen, was uns Claudia Poeschmann hier als Ergebnisse ihrer Werkstatt zeigt. Denn das Ausstellungsereignis, zu dem Sie heute eingeladen sind, hat zwei besondere Merkmale, die zwar nicht einzigartig sind, aber dennoch im Kunstbetrieb nicht alltäglich und daher erwähnenswert:
Erstens: Es findet in einer Kirche statt, was Anlass sein könnte, über das Verhältnis von Kirche und Kunst zu sprechen und dabei über die bemerkenswerten Impulse, die heute von Orten ausgehen wie etwa der Kunststation St.Peter unter Pater Friedrich Mennekes in Köln und ähnlichen Aktivitäten in kleinem oder größerem Rahmen. Nun, die Ausstellung gehört zu dem seit Jahren hier in Hochheim praktizierten Programm "Kultur in der Kirche". Und in diesem Zusammenhang hat es sicher viele Gelegenheiten gegeben - und wird es weiterhin geben, das Thema zu behandeln. Daher heute nur ein Stichwort dazu, das mir Pfarrer Georg Pape geliefert hat, und zwar durch die Überschrift zu seinem Artikel in der Broschüre zu den "evangelischen Wochen": Es ist ein Satz von Joseph Beuys: "Sanierung ist Heilung durch Kunst und Kultur." Auf diese gar nicht zeitgemäß scheinende, weil anspruchsvolle, vielleicht sogar anmaßende Maxime komme ich noch zurück.
Was sind Himmelstreppen?
Die zweite Besonderheit der Ausstellung besteht darin, dass sie einen Titel hat. Und diese Überschrift ist nicht nur, wie heute bei Ausstellungen sehr verbreitet, ein mehr oder weniger offener Begriff oder eine Worthülse, die beliebig zu füllen und zu dehnen ist, sondern der Titel ist sehr konkret und bezeichnet tatsächlich das Thema, zu dem Claudia Poeschmann gearbeitet hat. Alle Werke sind aus Anlass dieser Ausstellung entstanden und hier zum ersten Mal zu sehen.
Ihr Thema heißt "Himmelstreppen". Nun könnte man wieder beim Allgemeinen beginnen und über Treppen in der Kulturgeschichte philosophieren, von den treppenförmigen Tempeln der Azteken über die Stufen antiker Amphitheater bis zur Showtreppe, auf der nach wie vor die Revuestars zu uns herabsteigen. Die Treppe als Symbol des Aufstiegs, als Machtsymbol, als Requisit von Einschüchterungsarchitektur, und die Treppe als Symbol des Abstiegs, die Hintertreppe.
Die Himmelstreppe aber ist eine ganz besondere. Auf die Gefahr hin, für einige Gäste, die schon dem Gottesdienst heute morgen beiwohnten, etwas zu wiederholen, möchte ich die entscheidende Quelle dieses Wortes zitieren. Im ersten Buch Mose heißt es im 28. Kapitel:
"Aber Jakob zog aus von Beer-Sheeba und reiste gen
Haran.
Und kam an einen Ort, da blieb er über Nacht; denn die
Sonne war untergegangen.
Und er nahm einen Stein des Orts und legte ihn zu
seinen Häupten und legte sich an dem Ort schlafen.
Und ihm träumte; und siehe, eine Leiter stand auf der
Erde, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und
siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und
nieder;
und der Herr stand oben darauf und sprach: Ich bin der
Herr, Abrahams, deines Vaters, Gott und Isaaks Gott;
das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinem
Samen geben.
Und dein Same soll werden wie der Staub auf Erden, und
du sollst ausgebreitet werden gegen Abend, Morgen,
Mitternacht und Mittag; und durch dich und deinen Samen
sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet
werden."
Ikonographische Bezüge
Nun ist hier wie Sie hören, nicht von einer Treppe, sondern von einer Leiter die Rede. Und als Himmelsleiter oder auch Jakobsleiter ist der Begriff in die Ikonographie eingegangen. Der Grund ist die Übersetzung Martin Luthers. Das hebräische Wort sullám, das Luther mit Leiter übersetzt, meint eher eine treppenartige Aufschüttung. Es ist dabei wohl an die Zikkurat zu denken, die stufenförmigen Tempeltürme in Mesopotamien, die dem Hauptgott einer Stadt geweiht waren, etwa die Zikkurat von Ur. Richtig ist also, wirklich von der Himmelstreppe zu sprechen, wenn auch der zugrundeliegende Gedanke derselbe ist.
Die Himmelstreppe wird noch in der ganz aktuellen Gegenwartskunst thematisiert, was vielleicht zunächst überrascht. Nur zwei Beispiele: 1992 fand in Wiesbaden an mehreren Orten das große Jubiläumsereignis der Fluxus-Künstler statt. Im Kunsthaus am Schulberg, vielleicht haben Sie die Ausstellung gesehen, waren die "Sky ladders" - also wieder Himmelsleitern - des Amerikaners Geoffrey Hendricks zu sehen: eine "Day Sky Ladder" und daneben, an der Decke hängend, eine "Night Sky Ladder". Hendricks hat an diese Holzleitern Himmelsbilder gehängt, also Darstellungen des physisch Unerreichbaren. Er möchte aber alles verbinden, die Leiter ist für Hendricks sein Körper, der das Oben und Unten verbindet.
Aus Presse und Fernsehen ist Ihnen vielleicht ein anderes Werk bekannt: Vor zehn Jahren baute Hannsjörg Voth, der 1978 mit einem großen Floß mit einer Figur darauf den Rhein entlanggefahren war, in Marokko eine "Himmelstreppe" mit 52 Stufen. Ein Bauwerk von 16 Metern Höhe, aus gestampftem Lehm errichtet, mitten in der Wüste.
Er sagte damals: "Dem Verlangen, über die eigene Beschränkung hinauszuwachsen, will ich eine Form geben. Ich realisiere Rudimente eines inneren Drangs - für mich privat und als einzelner, während kultische Bauten früher von der ganzen Gesellschaft mitgetragen wurden."
Was ist das für ein Verlangen, was ist das für ein innerer Drang?
Hinauf und herunter
Wenn wir uns den Stufentempel von Ur vorstellen oder die begehbare, ja im Inneren sogar bewohnbare Lehmtreppe von Voth, so wirken dagegen die Himmelstreppen von Claudia Poeschmann wie Modelle, also eigentlich Bilder einer Idee, eines Gedankens. Sie provozieren die Vorstellung von Bewegung, hinauf und herunter.
"Die Treppe ist der gebaute Beginn einer gedachten Linie zwischen Erde und All." Aber diese Linie ist hier keineswegs gerade und unbeirrt, und die Treppen sind alles andere als monumentale Freitreppen, es sind eher Felsentreppen, Pfade, sie sind eng, verschlungen, und zum Teil unbegehbar, teils in einer an MC Escher erinnernden täuschenden Unlogik.
Die Bewegung wird auch in ihrer Richtung umgekehrt. Aus dem Hinunter wird, wie bei dieser ruhenden Wippe, unversehens ein Hinauf. In manche Treppen schaut man hinab, sie führen gar in eine bedrohliche Tiefe.
Einige Treppen haben weder Anfang noch Ziel, sondern beginnen und enden in der Leere. In der Leere? Nein, das Kunstwerk endet nicht dort, wo wir es nicht mehr sehen und anfassen können. Die Bewegung hat eine Herkunft und setzt sich auch fort. In beide Richtungen muß das Werk weitergedacht werden.
Und wo der eine Betrachter einen Aufstieg sieht, geht ein anderer gerade herunter. Man begegnet sich auf dem Wege - gedanklich. Wege kreuzen sich, führen gegen Abend, Morgen, Mitternacht und Mittag. Aber ebenso, wie in diesem Kirchenhaus das Zentrum und die Mitte nicht zusammenfallen, weil - ich zitiere aus der schon genannten Broschüre - nicht die Wahrheit, sondern das Problem in der Mitte liegt, so geht es auch bei Claudia Poeschmann um den Weg und nicht um das Ziel.
Der Ort des Menschen
Der Weg aber, die Treppe, so verzweigt, beengt, verschlungen und beschwerlich sie sein mag, ist immer Ausdruck des Versuchs, sich zu lösen, die Schwerkraft zu überwinden, neue Ausblicke zu erobern, ans Licht zu kommen, ans Licht, das hier nur einmal wie ein glänzender Horizont hinter der Treppe metallisch aufscheint. Letztlich, und da erinnere ich an Beuys, geht es um die Vorstellung des Menschen, der nicht nur das erdgebundene Naturwesen ist, nicht nur das die Gesellschaft verstrickte und von ihr geprägte Sozialwesen, sondern der freie Mensch.
"Da nun Jakob von seinem Schlaf erwachte," heißt es weiter in der Genesis, "sprach er: Gewiss ist der Herr an diesem Ort, und ich wusste es nicht; und fürchtete sich und sprach: wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes denn Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels."
Meine Damen und Herren, ich bin kein Theologe, und die Bibelauslegung steht mir nicht zu, wenn auch dieser Ort und vor allem die Arbeiten von Claudia Poeschmann mich im Wortsinn inspiriert haben. Aber ich habe versucht, Ihnen einiges zu sagen, was die Oberfläche der hier ausgestellten Werke nicht verrät. Und wo wir sind, wissen wir nur, wenn wir wissen, woher wir kommen, und wohin wir gehen, wohin uns die Treppe führt. An dieser Bestimmung unseres Ortes mitzuwirken, ist, glaube ich, die wichtigste Leistung der Kunst.
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