Rede zur Ausstellungseröffnung "Künstlerinnen und Künstler für das Kunstforum Rheinhessen" in der Sparkasse Mainz, Kaiserstraße, am 16. Juni 1997
Die im Raum - in diesem mit vielen Kunstwerken und noch mehr Menschen gefüllten Raum - stehende Frage, die Ihnen allen im Gesicht stehende und mir seit einigen Tagen im Nacken sitzende Frage ist: Was sagt der Mensch zu so einer Vielfalt künstlerischer Produktion?
Wie kann man in all das einführen, wie in der Einladung versprochen wird?
Wo finden wir einen gemeinsamen Nenner - außer den von meinen Vorrednern genannten wirtschaftlich-handfesten und kulturpolitischen Rahmenbedingungen - und: müssen wir ihn finden?
Was tun? Erstes Kapitel: Womit beginnen?
Da entdeckt der Sparkassenkunde, zunächst an seinem Kontostand interessiert, an seinen Sparbuchzinsen und den Kreditbedingungen, da entdeckt er, wenn er hinschaut, ein farbenfrohes Kabinett, eine Nebenwelt, eine Seitengalaxis des Alltagsgeschäfts, eine Nische, möglicherweise ein Universum. Nicht fremd, nicht alles fremd: Da gibt es eine Dame, die heißt Hilde. Da gibt es einen Maler, der hat Hilde gemalt, vor fünfzehn Jahren schon, wie mag sie jetzt aussehen? Würde ich sie wiedererkennen? Möchte ich sie wiedererkennen? Muss ich sie wiedererkennen?
Noch eine Frau, unbekleidet, und ein anderer Maler, der sie gezeichnet hat, die habe ich schon gesehen, die habe ich schon ganz häufig gesehen - nein, das ist gar nicht sie, die wir kennen, das ist niemand, das ist einfach ein Körper, und den kennen wir schon lang, den kennen wir zu Tausenden, der hat eine schöne Oberfläche, die muss man zeichnen und auf die Druckplatte bringen können. Diese Kunst ist gekonnt.
Was aber kann die Kunst?
Mehr Porträts entdeckt der Weltreisende, Gesichter, Menschen, Studien. Eine heißt: "Kopfstudie zur Wiederkennung".
Und da gibt es eine Offsetlithographie, 999mal gedruckt, der Titel: "Mein Freund". Der Freund weint jämmerlich, er weint vor sich hin, er weint uns an, das Bild ist ein einziger Jammer, warum lachen wir? Und: wie lange lachen wir?
Den Namen des Künstlers kennt man gut, er findet sich häufiger in den politischen Kommentaren als in den Kunstzeitschriften. Vielleicht hilft ihm das.
Was darf ein Künstler - außer Kunst machen?
Bisher nicht so schwierig, dieses Universum, da tasten wir uns weiter vor, und finden etwas ganz Einfaches: ein Schiffchen, aus Zeitungspapier, mit Farbe übermalt. Ein Mitglied der "weißen Flotte", gestrandet und etwas verloren in einer Vitrine, viel leichter als manche schwergewichtigen Kumpane drum herum. Es wird davon segeln.
Hinterlässt es Spuren?
So viele Fragen schon
Kunstwerke sind Spuren, und zwar von Fragen und von Antworten auf diese Fragen und von Widersprüchen auf diese Antworten und von erneuten Fragen.
Sie enthalten also, wenn sie den Namen verdienen, die Fragen ebenso wie die Antworten. Und sie fragen ständig weiter.
"Kunst ist eine Sache, deren Ernsthaftigkeit durch Vermummung nicht verschleiert werden darf." Genau! Endlich sagt mal ein Künstler direkt im Bild, was er meint und worum es geht.
Doch halt, war das Kunst oder ein politisches Plakat?
Wie sieht ein Kunstwerk aus? Muss es als solches erkennbar sein?
Nur ein Tipp: Die Qualität der Rahmung und die künstlerische Qualität stehen in keinem nachweisbaren Zusammenhang, nicht hier und auch nirgendwo anders.
Ein Blick in die Katalogliste. Die Geburtsjahre der beteiligten Künstlerinnen und Künstler reichen von 1925 bis 1973. Drei Generationen haben sich um Antworten bemüht und daher Fragen gestellt.... und Antworten infrage gestellt. Und viele Fragen und Antworten sind dennoch älter als die Künstler selbst.
Da gibt es die altmeisterliche Frage nach dem Chiaroscuro, das ein Gesicht wie im Lichtschein einer Kerze aus dem Dunkel hervorleuchten lässt.
...und den Versuch, ein Gesicht flächig, konturenhaft, starkfarbig und zur Ikone reduziert zu komponieren.
Die Zerlegung des Körpers in geometrische Grundelemente.
Es meldet sich die konkrete Poesie, in der die Schrift zum Sprachspiel und dann zum Bild wird, mit einem kleinen Verweis auf die Kunstszene und ihre Protagonisten.
Alltagsdesign und Konsumgüter, das Material der Pop Art, wird, mittlerweile noch unbefangener - oder unbewusster - zum künstlerischen Beitrag in einer durchgestalteten Oberflächenwelt.
Lichtkunst und Kinetik experimentieren mit farbigen, im Raum verwinkelten Leuchten, die je nach Bewegung des Betrachters zu unterschiedlichen Zeichen und Konturen werden.
Konstruktive Fragen, die Schaffung von Raum aus der Organisation von farbigen Flächen in der Ebene, begegnen uns.
...und manche andere Spuren früherer Auseinandersetzungen mehr
Denn, so scheint es, Problemstellungen in der Kunst veralten nicht. Ich bitte mich also nicht misszuverstehen: Es geht nicht um ein abschätziges "Das hatten wir schon". Wir können in dieser Ausstellung, so klein, provisorisch und zufällig entstanden sie ist, die Spuren der gesamten Moderne wiederfinden - und natürlich der Postmoderne, aber das versteht sich von selbst.
Die Sprache der Moderne ist noch nicht entschlüsselt, aber wir sind bereits dabei, die wenigen Brocken, die wir zu verstehen glauben, wieder zu verlernen.
Jenseits der Geldgeschäfte können wir hier dieser Sprache für eine Weile wieder zuhören. Wenn auch manches Wort uns vertraut klingt, so sprechen doch einige Arbeiten eine ganz eigene Sprache.
Schauen Sie, horchen Sie, fragen Sie,
und misstrauen Sie den Antworten.
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