Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Zeit für Kunst" im Rathaus Nieder-Olm, am 22. Juni 1997
Herr Bürgermeister Spiegler,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
"Zeit für Kunst...."
"Zeit für Kunst" scheinen die Menschen in der Verbandsgemeinde Nieder-Olm zu haben. Und "Zeit für Kunst" muss man mitbringen, wenn man herkommt. Diejenigen, die mich kennen, wissen, dass ich häufig herkomme, denn häufig, sehr häufig gibt es attraktive Gründe, zu kommen, und ich werde nicht müde, sie aufzuzählen: Da ist nach wie vor die Initiative Kultur Kommunal und die Schmiede Wettig, die, wenn die Verantwortlichen es schaffen, an ihrem einmal gesetzten Niveau festzuhalten, nach wie vor beispielhaft ist - auch für die Landeshauptstadt. Das ist der Essenheimer Kunstverein, der - auch hier wiederhole ich mich - d e r Kunstverein von Rheinhessen ist, und zu Rheinhessen gehört Mainz. Und das sind vor allem die vielen Künstler selbst, die in dieser Landschaft leben und arbeiten und die uns gemeinsam eine erstaunliche Vielfalt und Qualität künstlerischen Schaffens bieten, und sie uns nicht nehmen, sondern schenken, die "Zeit für Kunst". Vier von ihnen haben heute eingeladen, allesamt Mitglieder des Essenheimer Kunstvereins.
Manfred Pieck
Mein Rundgang am Freitag, während die Künstler aufbauten, endete zufällig im Erdgeschoss, und ich nahm die Bildobjekte von Manfred Pieck, denen Sie heute morgen als erstes begegnet sind, mit mir auf meiner Rückfahrt nach Mainz, tunlichst über die Landstraße, über Klein-Winternheim, im sommerlichen Nachmittagslicht, und - ich sah Rheinhessen anders. Da werden plötzlich Details der Kulturlandschaft, das Patchwork der Felder, der Horizont aus Hügeln, die Farb-Palette zwischen erdigem Braun, Laubgrün und Korngelb, da wird das alles zu Bildern, das heißt, zu aus der Umgebung isolierten, künstlichen, also von Menschen gemachten Ausschnitten der Wirklichkeit. Manfred Pieck ist angeregt und fasziniert von der Landschaft und davon, dass der Mensch diese Landschaft bearbeitet und formt. Aber er malt nicht nur die Landschaft, er analysiert und er formt sie selbst. Ganz konkret arbeitet er die Formen heraus, legt vor allem Schichten und Ebenen an, versucht damit den unendlichen Raum auf eine greifbare Dimension zu bannen. Sein Material - außer der naturalistisch benutzten Farbe - ist Holz und ein Kunststoff, Styrodur, sehr leicht, mit der Bandsäge schneidbar, sonst zur Dämmung benutzt und auch zum Modellbau. Und wie Modelle erscheinen manche seiner Landschaften, man möchte hineingreifen, so wie manchmal beim Blick aus großer Ferne das Lebendige selbst als Spielzeug vor uns liegt.
Der Gedanke aber ist wichtig, die Idee, und nicht so sehr das Konkrete. Da gibt es ein Diptychon, ein zweiteiliges Bild, das einige Wölkchen zeigt, ganz isoliert, und rechts die Gräser einer Wiese. Zwei beobachtbare Details sicherlich, aber auch ein Gedanke, der sie verbindet, aber nicht abgebildet ist, letztlich selbst wunderbarerweise auch nicht abgebildet werden kann: der Wind... Manfred Pieck, der Romantiker - trotz Styrodur, ist sich seiner Vorfahren wohl bewusst. Caspar David Friedrich wird zitiert, denn kein deutscher Künstler, der sich mit Landschaften beschäftigt, kann an ihm vorbeiarbeiten, aber nur der Gedanke, die Erinnerung an ein Bild, wird konkret. Äste, ein angedeutetes Feld, ein Horizont, und der Titel: "Zwei Männer den Mond betrachtend".
Wie zur Einstimmung begrüßen uns also Bilder, die wir kennen, zu kennen glauben, im Foyer des Hauses, führen uns von Landschaftsimpressionen, von Erfahrungen und Empfindungen in der Natur, die wir alle haben und nachvollziehen können, zur Kunst, die nach wie vor in der Schöpfung neuer Welten, neuer Erfahrungen besteht. Das treffende Abbilden dessen, was wir schon wissen, macht allein noch nicht das Wesen ästhetischer Produktion aus. Jedes Kunstwerk spricht seine eigene Sprache, die es zu entschlüsseln gilt. Das bedeutet Arbeit, Denken, Reden, Spielen, Ausprobieren, Verwerfen, Erfahren. Mit dem Wiedererkennen und Schön-Finden ist es nicht getan.
Wolfgang Kirmair
Wir gehen ein Stockwerk höher, und auch Wolfgang Kirmair läßt uns zunächst manches wiedererkennen, aber ganz anderes. Nicht Natur und Landschaft sind bei ihm der Ausgangspunkt, sondern das bereits vom Menschen Erzeugte, die Produkte der Zivilisation. Die Verarbeitung von Kulturerzeugnissen ist - zugespitzt - ein Nenner, über dem man das vielseitige Werk von Kirmair fassen könnte. Verarbeitung heißt in diesem Falle: Abbildung, Zitat, collagehafte Einbindung, serielle Reihung, Persiflage, objekthafte Zurschaustellung und manches mehr. Also auch er, der von sich nicht ohne Attitüde sagt, er ließe sich nicht einordnen, möchte zumindest hinter das Wesen der Dinge schauen. Seine Dinge aber sind Menschenwerk, zeitabhängig, großenteils industriell gefertigt und Konsumgüter. Sein Ort liegt irgendwo zwischen Duchamp, Dada, Fluxus und Pop Art. Man könnte recht viel erzählen über Kirmairs Werk, hat er doch draußen eine regelrechte Retrospektive aus den letzten 15 Jahren aufgebaut. Seine Arbeiten sind selbst kleine Erzählungen. Man kann in ihnen lesen, wird beglückt immer wieder kleine Entdeckungen und Entschlüsselungen machen, und meistens springt schnell ein Funke des gemeinsamen feinen Amüsements über.
Ein Beispiel: "Horas", deutsch "Stunden" heißt ein Objektkasten, der aus drei Abteilungen besteht: Zigaretten, Korken und Tageszeitungen. Alle sind Spuren der verstrichenen Zeit, aber man kann sie auch zu Uhren und Kalendern umdenken. Sie sammeln sich, und wir können - sofern wir regelmäßig dem Genuss von Zigaretten, Wein und Zeitungen zusprechen - an ihnen die verstrichene Zeit ablesen. Das Ergebnis ist natürlich ein anderes als die Daten einer Digitaluhr.
Auch Kirmair zitiert. "Mondrian Boogie Woogie" besteht aus Computerplatinen, mit Chips und anderen elektronischen Bauteilen besetzt, und darin finden sich einige Nachempfindungen von Mondrian-Bildern im Miniaturformat. Mondrians berühmtes Bild "Broadway Boogie Woogie", nach einer Zeitreise über Jahrzehnte, ist heute eine elektronische Schaltung. Das Straßenmuster wird zum Halbleiterbild, die Stadt zum elektronisch erzeugten virtuellen Gebilde, in dem die damals revolutionären, heute nur noch kanonisierten Mondrian-Bilder nichts weiter sind als überlieferte Mosaiksteinchen früherer Kulturen. So lässt sich zu jeder Arbeit Kirmairs philosophieren, erzählen, entschlüsseln und an Bedeutungen basteln. Ich bin sicher, der Künstler wird Ihnen auf die Sprünge helfen.
Claus Laubscher
Betreten wir diesen Saal, so ist der gedankliche Sprung zunächst gewaltig. Ganz archaisch, geradezu urtümlich treten einem die Holzschnitte Claus Laubschers entgegen. Sie stammen aus den letzten Monaten und gehören zu einer noch in Arbeit befindlichen Serie zum Thema "Boote". Aber nicht in gleitender Bewegung auf dem Wasser erscheinen sie hier, sondern stehend, auch hängend, vielleicht an einem fernen Strand, auch schon zerfallend. Aus dem Gefährt wird ein Zeichen, ein Mahnmal, ein wildes aufragendes Monument. Die Boote sind nicht mehr in Fahrt, aber umso mehr in Fahrt ist die Hand des Künstlers, der aus dem Holz dramatische, expressive Formen schneidet, die in einer aufregenden Spannung zu der eingefangenen ruhenden Energie der alten Boote stehen.
Nun ist man seit dem Expressionismus an den kontrastreichen, grob und ungestüm gestalteten Holzschnitt gewöhnt, aber bei Claus Laubscher ist mehr zu entdecken. Meist vier Farben druckt er, schwarz, weiß, Gold, grün oder auch blau, aber er setzt die Farben teilweise lasierend ein. Das heißt, es ergeben sich Transparenzen und Modulationen wie sonst selten in dieser Technik. Die Maserung der Holzplatte scheint durch, die metallische Reflexion des Golddrucks wird gebrochen, und schwer beschreibbare Mischtöne erscheinen. Der Holzdruck bekommt malerische Qualitäten. Jeder Druck ist für den Künstler ein Risiko, da das Ergebnis anders sein kann als erwartet. Um die hier gezeigten Formate zu realisieren, ist außerdem eine riesige Presse erforderlich.
Eine weitere Besonderheit kommt hinzu. Claus Laubscher druckt in dieser Serie nicht auf Papier, sondern auf Leinen, das er anschließend auf Holzrahmen spannt. Der Gemäldecharakter der Drucke wird dadurch noch mehr betont, und außerdem wird das flache Bild zu einem Kasten, setzt sich auf den Rändern fort, wird zu einem kompakten Objekt. Überhaupt sind ja die wenigsten Arbeiten in dieser Ausstellung gerahmt, ich weiß nicht, ob Ihnen das schon aufgefallen ist. Die Bilder treten nicht auf als gerahmter Blick auf die Welt, als ausschnitthafte Abbildung, sondern als eigenständige Realität in Ergänzung zur Welt.
Veronika Schneider
Auch auf die zarten Tücher von Veronika Schneider, hier hinter mir, trifft das zu. Ohne Bildträger, ohne Rahmen, verletzlich wie dünne Fahnen im Wind, hängen sie vor den Wänden, sind teils durchsichtig, könnten wegfliegen oder zerfallen, wenn man nicht acht gibt. Sie sind wohl die vom Gegenstand, von möglichen Oberflächenbedeutungen am weitesten entfernten Arbeiten in dieser Ausstellung. Nur noch Farbe, Komposition, Struktur, Gewebe und Gewicht kommen als Beschreibungskategorien in Betracht. Es ist in der Tat sehr genau hinzuschauen und hinzufühlen - zumindest gedanklich - will man hinter ihr kühles Geheimnis kommen. Die Stoffe haben verschiedenen Charakter, sind dicker oder dünner, teils fest, teils luftig, teils steif, teils zart.
Wichtig scheint mir, dass die verwendeten Tücher alle gebraucht sind, als Leintücher wohl meist. Sie tragen ihre Geschichte schon in sich, tragen Spuren des Lebens, sind abgewetzt, durchgelegen, ausgedünnt, sind selbst zu der Haut geworden, mit der sie sich jahrelang rieben. Veronika Schneider gibt ihnen ein neues Leben, sie tränkt sie mit Farbe, bis Pfützen stehen bleiben, bedruckt sie, malt auch und montiert sie dann zu den Fahnen in rechteckiger Form, wie wir sie hier sehen. Meistens bekommen sie Partner, treten in Dialog mit Geschwistern, Kumpanen oder Spiegelbildern.
"Was ist hinter den Bildern", wurde Picasso einmal gefragt. "Die Wand", war seine Antwort. Was wie ein Bonmot klingt, für andere vielleicht wie ein Kalauer, enthält eine zentrale Position der Moderne: den Anspruch des autonomen Kunstwerks. Insofern verändert jedes Kunstwerk die Welt, da es ein Teil dieser Welt wird.
Vier Künstler, vier Leben, vier Welten. Meine Damen und Herren, als ich vorgestern herkam, um mir die ausgestellten Arbeiten anzusehen und mit den Künstlern zu sprechen, war ich erstaunt und erfreut über die Großzügigkeit und Vielfalt der Ausstellung bei gleichzeitiger Konzentration auf wenige wichtige Gedankengänge.
Eine Ausstellung wie diese möchte sich das eine oder andere Rathaus des Landes - auch in größeren Städten der Umgebung - wünschen, zumindest wünsche ich mir sie. Freuen Sie sich über dieses Geburtstagsgeschenk, freuen Sie sich über die Ihnen geschenkte "Zeit für Kunst"
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