Rede zur Ausstellungseröffnung Cony Theis: "Am Rand der Ruhe" im Brückenturm - Galerie der Stadt Mainz, am 5. September 1997
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
in diesen Tagen trifft man Menschen, die von der documenta zurückkommen. Ratlosigkeit steht meist in ihren Gesichtern, nur selten blinkt Begeisterung auf, das Angebot sinnlicher Erfahrung wird vermisst, man müsse zuviel lesen anstatt zu sehen und zu erleben, und der theoretische Überbau der Konzeption wird als drückend empfunden. Wo bleibt die Kunst? steht als Frage im Raum. Oder besser: Wo ist die Kunst geblieben? Das kann doch nicht alles gewesen sein...
Nun hat bisher jede, aber auch jede documenta ihren spezifischen Staub aufgewirbelt, wurde verdammt, gefeiert, zumindest hitzig diskutiert und machte insofern Geschichte. Das ist schließlich ihre Aufgabe. Nicht um die Leistungsschau und die generalisierende Bestandsaufnahme soll es gehen, sondern um die Öffnung des Blicks auf die nächste Epoche. Die documenta dokumentiert nicht die Antworten, sondern die Fragestellungen einer Situation. Und diesen Anspruch erfüllt die diesjährige documenta sicher ebenso wie ihre Vorgänger.
Ein derartiges Kriterium, also ob eine Ausstellung mehr auf der Seite der Fragen oder der Antworten anzusiedeln ist, könnte versuchsweise auf seine Praktikabilität überprüft werden. Und auch in den städtischen Ausstellungsräumen in Mainz gibt es dafür fast täglich empirisches Material. Das genannte Kriterium ist sogar bisweilen explizites Programm.
Forschungsstationen
Cony Theis z.B. sagt: "Ich versuche, Antworten auf gegenwärtige Fragen und Fragen auf gegenwärtige Antworten zu finden." Sie nennt ihre Werke "Forschungsstationen" in dieser Arbeit. Und ihre, ich zitiere sie, "eventuell scheinbare Zusammenhanglosigkeit" erklärt sie als Ergebnis des "Auslotens in verschiedene Richtungen". "Denn ich bin von der Mehrdimensionalität ebenso überzeugt wie von der Notwendigkeit, die Wahrnehmungsmöglichkeiten für komplexe Zusammenhänge zu schärfen."
- Das müssen Sie jetzt überprüfen, meine Damen und Herren!
Ich denke, dass diese Ausstellung sehr viele Fragen stellt, dass sie vieles infrage stellt, und dass sie auch Fallen stellt. Es beginnt mit dem Material und den Arbeitstechniken.
Gerade mal zwei Gemälde in Eitempera auf Leinwand werden uns präsentiert, aber sie zeigen uns ein denkbar spießiges Alltagssujet: Sofakissen. So recht ernstnehmen können wir sie nicht, nachdem uns das Thema Kissen schon gleich beim Eintreten gründlich verleidet wurde, denn die meisten Kissen, die Sie hier sehen, sind aus Beton. Wer sich auf sie bettet, sinkt nicht in eine das Gewissen erleichternde sanfte Ruhe, sondern dürfte die offene Frage in Form einer schmerzenden Beule davontragen.
Materialien
Und, obwohl weicher, so recht zudecken mag man sich mit der Steppdecke aus Haaren und Plastikfolie eigentlich auch nicht. Am bequemsten liegt es sich wohl im (plexi-) gläsernen Sarg voller Federn, allein schon der Gedanke erweckt ein Gruseln.
Die Materialien, das sei zunächst rein äußerlich festgehalten, versprechen anderes, als sie halten können, und führen uns bewusst in die Irre.
Nun sind die Techniken der industriellen Fertigung schon längst in den Kanon künstlerischer Arbeitsweisen aufgenommen, falls es so etwas noch gibt. Betonguss, Plexiglas, Fotografie, Plastik, Stoffe, Leuchtröhren, Fernsehschirme usw. haben die Ateliers erobert und stellen nur noch dem Unerfahrenen Fragen. Übrigens wiederum ausgelöst und auf den Punkt gebracht auf dem Schlachtfeld der documenta, vor 15 oder 20 Jahren.
Es bestand bisweilen - und ich meine, es besteht immer noch - die Gefahr, dass sich der Werkbegriff zerreibt zwischen musealer Konkretheit und Nutzbarkeit des Objekts.
Nun, trotz Kissen, Decken, Fernsehern und Särgen fühlt sich wohl niemand wirklich aufgefordert, die Werke von Cony Theis in Wohnzimmergemütlichkeit in Benutzung zu nehmen. Denn...
ja, obwohl anscheinend kalt gefertigt, d.h. mit der Kühle technisch-handwerklicher Präzision, strömen die Gebilde eine bedrückende Intimität aus. Auch dies, sozusagen auf dem Grat zwischen Haut und Beton, zwischen Wärme und Kälte, eine Frage und eine Falle.
Denn "am Rand der Ruhe" geht es um Gegenstände der Nähe: Decken, Kissen, Haut und Haar. Es riecht nach Schweiß. Und kuschelig ist es nicht gerade.
Menschenmaterial
Ein Wort in all seiner Mehrdeutigkeit und Brutalität springt mir entgegen, als ich die neuen Arbeiten von Cony Theis zum ersten Mal sehe. Das Wort heißt "Menschenmaterial".
"Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück." - Alexander Kluge im Film "Die Patriotin", 1979. Cony Theis ist in diesem Jahr einundzwanzig Jahre alt. Kluge meinte 1979, zwei Jahre nach dem "deutschen Herbst", - auch der wird in Kürze Zwanzig - das Wort "Deutschland".
Wenn Alexander Kluge einen Film über diese Ausstellung machen würde, würde er vermutlich in seiner unübertroffenen Lapidarität im Kommentar sagen: "Eine Kunstausstellung. Gezeigt wird Menschenmaterial."
Nun sieht das Wort zurück.
Der Mensch produziert, verformt, verfeinert, findet, erfindet, erzeugt und zerstört Material. Umsatz und Stoffwechsel.
Und der Mensch ist Material. Überhaupt heißt Material ja Benutzbares, Verwertbares, im Begriff steckt die Idee des Zukünftigen. Erz wird zu Eisen, zu Stahl... Und der Mensch??? Er benutzt, verbraucht, missbraucht und zerstört sich selbst. Eingriffe, Narben, Verflechtungen, sie sind abgebildet, gesammelt, geordnet und ausgestellt im Werk von Cony Theis.
Nachthimmel von fern
"Als das Kind Kind war", "Als das Wünschen noch geholfen hat", "Als die Sterne noch farbig waren", "Als die Bilder noch Bilder waren", hat Cony Theis den Nachthimmel gemalt, den sternenbesetzten Himmel über sich in kleinen Ausschnitten. Ausschnitte, die Phasen von Bewegungen erfassen, von rasend schnellen Bewegungen, eingefroren, vergrößert und einmal fast greifbar in einem Kometen.
Das war vor zwei Jahren, drüben in der Galerie Sauveur in Eppstein. Auch da gab es schon Beton, aus ihm war eine Himmelstorte gegossen, gebacken. Somit war der Kuchen ungenießbar, aber wer will schon, außer MIR-Kosmonauten und Challenger-Atsronauten in den Himmel beißen.
Jetzt sind wir schon in kosmologischer Ferne, viel weiter als Hessen, wir blicken auf die Welt, finden Reste menschlicher Existenz, Haare, versteinerte Sofakissen, einen polygonalen Gegenstand voller Licht und Federn und irgendetwas Elektronisches, das unablässig Farben von sich gibt. Die Akten aus einem biologischen Labor entdecken wir, Bestandsaufnahmen gegenwärtiger biologischer Existenz, sozusagen Detailvergrößerungen lebender Wesen. Menschenmaterial. Interessant, sagen die grünen Männchen, da hat sich die Lichtjahre dauernde Expedition ja gelohnt.
Und einige Planquadrate weiter in Kassel - wir fliegen mit der Wetterkarte - wachsen Gräser auf Bahngleisen. Pflanzenmaterial. Die grünen Männchen, vielleicht auch die grünen Weibchen, schwenken zurück: weiße Federn, Leder - denken sie, weil sie die kleinen Betonkissen noch nicht greifen können - Tiermaterial!
Verzweiflung könnte sich breit machen und wuchern, aber - "Vor dem Aufstieg ins allzu Himmlische bewahrt die Theis ein gerüttelt Maß ganz irdischen, gestalterischen Witzes," schreibt die Rheinzeitung 1994, und sie hat recht, denn...
"Als das Wünschen noch geholfen hat", entstieg Schneewittchen seinem gläsernen Sarg, warf ihre Versteinerung ab wie einen Chitinpanzer, prostete den Zwergen zu und rief: "Die Ausstellung ist eröffnet".
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