Rede zur Ausstellungseröffnung von Elke Richert und Juliane Gottwald in der Sparkassenakademie Schloss Waldthausen, am 2. September 1998
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
die Briefkästen füllen sich wieder, ebenso der Terminkalender, die Mainzer Kunstsaison 98/99 wird praktisch heute Abend eröffnet, und ich begrüße Sie herzlich. Ich denke, wir werden uns in den nächsten Monaten häufig wiedersehen. Unter anderem, lassen Sie mich diese Ankündigung gleich vorwegnehmen, hoffentlich schon übermorgen um 18 Uhr, wenn im Brückenturm, der Galerie der Stadt Mainz, Elke Richert eine weitere Ausstellung eröffnet, "Flora" betitelt.
Dass es zu dieser zweifachen Präsentation einer Künstlerin kommen konnte, ist auch Herrn Michael Riemann zu verdanken, der es über Jahre geschafft hat, hier im Schloss Waldthausen konsequent und mit großzügiger Unterstützung für die Künstler Qualität aus den rheinland-pfälzischen Ateliers zu zeigen. Dass diese erste Adresse der Region in der bisherigen Form erhalten bleibt, ist ihm, den Künstlern und uns allen zu wünschen.
Es ist ein über viele Jahre bewährtes Prinzip dieses Hauses, in den Ausstellungen jeweils einen Maler oder eine Malerin mit einem Bildhauer oder zumindest einem in den Raum hinein arbeitenden Künstler zu kombinieren. Die so entstehenden Paarungen - ob im Einzelfall geglückt oder eher problematisch - fordern regelmäßig eine Entscheidung des Redners heraus, und zwar darüber, welche Strategie der Einführung sich anbietet. Soll ich vergleichen, gegeneinander halten, Gemeinsamkeiten konstruieren oder einfach die beiden Persönlichkeiten nacheinander und unabhängig voneinander präsentieren. Wie die Ausstellungskonzeption kann auch die Entscheidung des Redners glücken oder danebengehen, Erfahrungen verschiedenster Art haben wir alle schon gemacht.
Die heutige Ausstellung nun hat mich ebenso spontan wie drängend zu einem - zugegeben - riskanten Versuch verleitet. Das Experiment besteht darin, tatsächlich einmal möglichst durchgängig über beide zu sprechen, Juliane Gottwald und Elke Richert. Die heute hier erstmals gezeigte Kombination ihrer Werke ist ebenso wenig geplant wie zufällig, sie hat sich einfach so ergeben, aber: sie ergibt Sinn. Es geht nämlich um nichts weniger als um Grundfragen der Kunst.
Beginnen wir einfach. Vermeintlich.
Gegenständliches
Elke Richert und Juliane Gottwald bilden Gegenstände ab und bezeichnen sie, ohne dass es bereits im Titel oder im Verhältnis vom Titel zum Werk Irritationen gäbe. Spargel, Enten, Pflaumenkuchen, Fische. Ein Bilderbuch. Die Welt - oder ein sympathischer Ausschnitt aus der Welt - in der Kunst gespiegelt.
Gegenständliche Kunst, Kunst, die sich an Gegenständen unserer Alltagswirklichkeit festmacht, führt derzeit eine Nischenexistenz, scheint einer Rechtfertigung zu bedürfen.
Bei Richert und Gottwald kommt es noch schlimmer. Sie konzentrieren sich auf Motive, die dem Kanon früherer Jahrhunderte zu entstammen scheinen: Tiere und Pflanzen bei Richert, und Speisen und Früchte, auch Blumen, also klassische Stillebenmotive, bei Gottwald. Beide Künstlerinnen haben sich ihren Sparten nahezu ausschließlich verschrieben, sie erscheinen als Spezialistinnen, als ob sie jeweils eine Zunft vertreten würden. Man kann durchaus von Markenzeichen sprechen. Ich meine dabei natürlich die öffentliche Wirkung und weniger das Selbstverständnis der beiden.
Über die Auswahl der Sujets - was bedeutet es, wenn jemand heute, d.h. in Anbetracht der Alltagsrealität und im derzeitigen Kunstkontext - ein Bund Spargel malt oder einen Elefanten aus Holz baut - darüber kann man etwas sagen, man muss es nicht. Ich möchte auch nicht die jeweiligen kunsthistorischen Traditionen heranziehen, vor deren Hintergrund die beiden Künstlerinnen und ihre Motive uns erscheinen.
Ich möchte über Gegenständlichkeit in der Kunst sprechen und was sie leisten kann.
Beide Künstlerinnen zeigen uns natürliche Formen - oder, wenn man den Kreppel nicht als Gegenstand der Natur bezeichnen möchte - es sind organische Formen, organisches Material im Sinne der Chemie, die Anatomie der Sujets ist eher weich als hart, eher rund als gerade, eher rau als glatt. Es ist natürliche und nicht technische Umwelt, es ist ein wenig Gegenbild, angenehme Umgebung, in der wir uns ausruhen können, irgendwo in der Gegend zwischen Paradies und Schlaraffenland. Den Menschen braucht es nicht dabei, es sei denn, wir erinnern uns an den, der das Backwerk gebacken, den Spargel gezüchtet oder Hund und Katze zu Haustieren gemacht hat.
Formen in Holz
Zurück zur Form. Und hier muss ich für einen Moment doch zweigleisig sprechen.
Bei Elke Richert geht es um das Wesen der Bewegung und der Beweglichkeit, es geht um die Körperglieder in verschiedensten Konstellationen, je nach Haltung und Bewegungszustand des Tieres, es geht um ihre Funktion, ihre Physiologie, ja um ihre Physik und Statik. Ruhende Energie ist spürbar, gerade eben zur Ruhe gekommen oder auch kurz vor einer erneuten Bewegung, manchmal auch, z.B. bei dieser springenden Katze, im Bewegungsablauf eingefroren.
Man hat der Künstlerin schnörkellose Direktheit und nüchterne Ökonomie der Mittel bescheinigt. Und in der Tat überraschen die Skulpturen dadurch, mit wie einfachen Griffen, Kombinationen, Schnitten so komplexe Gestaltwahrnehmungen ausgelöst werden. Es sollte übrigens erwähnt werden, dass es sich in keinem Fall um Fundhölzer handelt. Alles ist geformt und konstruiert.
Dies ist unter anderem am Bau der Gelenke zu erleben, also an den Stellen, an denen die zusammengesetzte Figur beweglich ist. Die bildhauerische Lösung ist nie reine Technik, sondern immer auch Darstellung einer Erfahrung. Überprüfen Sie einmal, wo bei der Gruppe der Hunde im Foyer die Körperglieder aneinander stoßen oder verbunden sind und wie dies je nach Haltung des Hundes variiert wird.
Metallverbindungen werden fast nicht benutzt, nur des Elefanten Ohren sind in Türangeln aufgehängt, keineswegs versteckte Notlösung, sondern ironischer Ausdruck der Bewegungsform von Elefantenohren, wie sie die Künstlerin wahrnimmt.
Farben und Oberflächenmuster, die Streifen des Katzen- und Zebrafells z.B., werden ebenfalls mit bildhauerischen, d.h. räumlichen Mitteln dargestellt, etwa durch eingesteckte Holzstücke, und diese haben zum Teil wieder konstruktive Funktion, indem sie die Einzelteile der Skulptur zusammenhalten.
Besonders spannend und überraschend ist Richerts Einsatz von Negativformen bzw. das Spiel und der Antagonismus von Positiv- und Negativform. Dabei ist das Andeuten von Mustern durch flache Schnitte mit der Kettensäge noch das nächstliegende Verfahren. Das gefleckte Fell der Giraffe aber durch regelrechte Löcher zu beschreiben, ist ebenso frech wie genial.
Einige Figuren sind offensichtlich zweiteilig ohne jede Verbindung, z.B. das Pferd vor dem Eingang. Und wo der massige Rumpf eines Elefanten erwartet wird, gähnt wieder eine große Leere, die aber den Gesamteindruck, die wahrgenommene Gestalt, in keiner Weise stört.
Der vorläufige Höhepunkt dieses Verfahrens scheint mir die Arbeit "Flugbahn eines Vogels" auf der Galerie. Die Spur eines Vogels in der Luft, ein schon ganz abstrakter Gedanke, denn es handelt sich ja um eine virtuelle Form, erscheint als Loch in einem Stamm, mit einigen Schnitten der Kettensäge gezielt ins Holz gesetzt, als ob der Vogel hindurch geflogen wäre.
Dem gegenüber stehen kompakte, meist einteilige, manchmal reliefartige Skulpturen, bei denen die Balken nur wenige Eingriffe aufweisen. Sie kreisen allesamt um das Thema der Verschmelzung eines Tieres mit seiner Umgebung: Ich meine die Fische, Enten, die zwei Stämme mit Katzen, und vor allem die Schmetterlinge.
Formen in Farben
Die Speisen und Früchte von Juliane Gottwald liegen demgegenüber naturgemäß still vor uns. Die Bildhauerin hätte versucht, das Wachsen des Spargels aus dem Erdreich heraus zu erfassen, für die Malerin liegt er als Biomasse - Sie verzeihen den Ausdruck - vor uns, sie erforscht seine stoffliche Zusammensetzung, seine Konsistenz, seine Chemie, seine Farbigkeit, und Essbares ist natürlich nicht zu malen, ohne dass Geschmack und Geruch mitdenken.
Durchweg gespachtelte Ölbilder - Pinsel sind ihr zu weich -, die das Motiv in hoher Vergrößerung abbilden. Sinneseindruck oder Sinnlichkeit, wie gesagt wird, ist Ausgangspunkt der Arbeit und Ergebnis in der Wirkung zugleich. Dazwischen liegt - anders als bei Richert - lange Zwiesprache mit dem Modell im Atelier.
Es wird gemalt, bis das Modell verfällt. Gottwald erlebt die Vergänglichkeit ihrer Sujets mit. Sie malt auch nach Jahreszeiten, alles zu seiner Zeit, den Spargel im Mai, den Pflaumenkuchen im August, die Kreppel oder Krapfen im Winter. Eingefroren und wiederaufgetaut wird nicht.
So entsteht durch langen Blick, auch durch jährlich wiederkehrende Blicke eine Überzeitlichkeit. Was wir vor uns haben ist gleichzeitig eine bestimmte Spargelgruppe, die es einmal gegeben hat, und ein Bild vom Begriff Spargel an sich. Die Kunst macht hier einen kleinen Schritt von der Natur zur Unendlichkeit. Die Monumentalität der Gemälde und die Vergrößerung unterstreichen dies.
Das Spiel, das Gottwald auf der formalen Ebene interessiert, ist der Antagonismus von Farbschichten. Es ist eine heftige, kraftvolle Malerei, die das Vermischen und Einander-Überlagern der Farben in aller Zufälligkeit des Details sensibel und handwerklich erfahren kalkuliert.
Kunst wie sie hier um uns steht ist also nicht nur Abbildung der Natur, nicht Nachahmung der Natur, nicht Beschreibung, sondern Erklärung der Natur, Klärung, Freilegen und Eröffnen tieferer Schichten, Beleuchtung wesenhafter Elemente, Analyse im Sinne eines erweiterten Wissenschaftsbegriffs, der den erweiterten Kunstbegriff beinhaltet.
Die Betrachtung der Bilder und Skulpturen ist damit Naturbetrachtung, vermittelt durch die Betrachtung, die bereits jemand vor uns, die Künstlerin, angestellt hat. Elke Richert und Juliane Gottwald verbindet eine Fähigkeit zur Beobachtung, die das Sujet und seine Oberfläche durchdringt und Formprinzipien, Proportionen, Ordnungen, Rhythmen entdeckt. Gegenständliche Kunst leistet nämlich viel mehr als der zwanghafte Anatomiezeichner oder der virtuose Stadtmaler, der mit Wiedererkennbarkeit spekuliert. Der Spaß hört ja nicht auf, wenn wir aus den rohen zusammengestellten Balken das grasende Pferd oder aus dem vielschichtigen Farbteppich den Lollo Rosso erfasst haben.
Die ästhetische Qualität, wenn wir sie nicht philosophisch sondern wahrnehmungspsychologisch untersuchen, stellt sich in mehreren Phasen dar, die wir durch Introspektion, also Beobachtung unserer selbst durchaus erkennen können. Ich bin sicher, Sie werden mir folgen.
Da ist in der Begegnung mit dem Werk nach einer kurzen Unsicherheits- oder Orientierungsphase ein Moment, den ich als glückhaft bezeichnen möchte. Es ist der Moment, in dem wir aus dem vor uns angeordneten Material, sei es Farbe oder Holz, das Gemeinte konstruieren. Ja, als aktive Leistung muss dieser Moment beschrieben werden, als geglückte Rekonstruktion. Als Indiz dafür, dass dieser Moment glückhaft ist, kann gelten, dass wir versuchen, ihn immer wieder zu erzeugen, immer wieder hinzuschauen. Man nennt dies auch Faszination. Und ein Indiz dafür, dass unsere Wahrnehmung aktiv ist, besteht in der Möglichkeit, uns vom konkreten Gegenstandseindruck auch wieder zu lösen. Man kann sich vornehmen, das Bild oder die Skulptur wieder einfach als geformtes, abstraktes Material zu sehen. Dabei hilft, den Standpunkt zu verändern, näher heranzutreten oder auch mal den Kopf zu neigen.
Nach der Rekonstruktion also die Dekonstruktion, und diese spielerische Arbeit, die nichts anderes ist als das Erlernen der eigenen Sprache, die das Kunstwerk spricht, wiederholt sich in den vielen Details jedes Werkes. Das Material und seine Ordnung treten plötzlich in den Blick. Die Farbebenen, die Oberflächenstruktur des Holzes, kompositorische Aspekte wie die Verteilung von Gewichten und Volumina.
Und so nähern wir uns einem Konzept, das auf anderer Warte "Autonomie des Kunstwerks" genannt wird. Den Gegenstandsbezug können wir dann irgendwann loslassen, müssen ihn aber nicht vergessen. In der Raumkonstellation mit den Polen Künstlerin, Sujet, Begriff und Betrachter entsteht die Kunstwahrnehmung.
Und, nicht zuletzt, darüber hinaus - kein Bonmot, sondern meine Erfahrung:
Bei mir zuhause lebt eine Katze. Und in der Obstschale liegen Pflaumen. Sie schauen mich seit einigen Tagen anders an.
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