Rede zur Ausstellungseröffnung von Doro Koidl im Kreishaus Hofheim am 24. September 1998
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich möchte heute über Rätsel sprechen, und die Komposition meiner Rede beginnt ohne Vorbereitung und Introduktion mit einer gewaltig ernsthaften Frage, die zugleich das musikalische Thema sein soll: Welches ist das größte Rätsel der Welt? Erschrecken Sie nicht, in 10 Minuten erhalten Sie eine Antwort.
Es zeichnet ein gutes Kunstwerk aus, sich nicht sofort zu erschließen, sondern Rätsel aufzugeben. Da geht es Ihnen so wie mir und jedem, der sich selbst beobachtet: Schon der erste Moment der Annäherung an ein Bild löst ein enormes Bedürfnis nach Orientierung aus. Wir versuchen, Form und Gestalt eines Werkes zu erfassen, registrieren die Oberfläche, scannen es sozusagen ein, und merken es uns in wenigen Augenblicken. Dabei spielen Inhalt und Begriffe noch gar keine Rolle.
Gleichzeitig stellt sich eine emotionale Reaktion ein: wir mögen ein Bild oder auch nicht, und ohne eigentlich viel zu wissen, sprechen wir schon darüber in der Form wie: Das blaue gefällt mir besser als das gelbe, dieses ist so unruhig, bei dem stören mich die Streifen, das da ist irgendwie harmonischer... usw. usf.
Wenn wir ehrlich sind, bleibt unterschwellig sofort eine Unzufriedenheit. Wir sind hilflos. Denn das kann es ja nicht gewesen sein, wir reden ja nicht über Tapetenmuster. Wir wissen: Das Rätsel des Bildes haben wir noch nicht gelöst. Es bleiben viele Geheimnisse - größere Geheimnisse als die Frage nach dem Dargestellten oder dem sogenannten Motiv.
Landschaften
Nun gibt es bisweilen Randinformationen, die helfen können. Dieser Ausstellung hat die Künstlerin einen Titel gegeben: "Ferne Gestade". Dass dieser Titel etwas zwar Undeutliches, weit Entferntes, sogar vielleicht Entrücktes benennt, aber doch etwas Vorstellbares, Materielles, im Prinzip Sichtbares, legt nahe, danach in den Bildern zu suchen, diese imaginierten Küstenstreifen zu entdecken.
Wir finden sie dann schnell, in einer Gruppe von Bildern, die offensichtlich als landschaftliche Phänomene verstanden werden können. Es sind Horizontlinien auszumachen, der Blick wird in eine blaue Tiefe gezogen, eine vage räumliche Orientierung setzt ein, die zunächst nur bedeutet: Ich stehe hier, und mir gegenüber öffnet sich ein Raum mit großer Tiefe, in den ich hineinblicke, in den ich mich möglicherweise hineinbegeben kann.
Auf diese Spur gesetzt, versuchen wir auch die anderen Bilder landschaftlich zu verstehen, und empfinden z.B. bei den als "Begegnungen" titulierten Arbeiten wieder eine räumliche Dimension, in diesem Fall eher den Blick von etwas weiter oben hinab auf eine Fläche, auf der eben diese Begegnungen von Figuren stattfinden. Wenn man so will, liegt der Horizont hier höher, außerhalb der Bildgrenzen.
Sollten wir jetzt versuchen, über diese grobe Festlegung der Perspektive hinaus mehr Formationen des Landschaftlichen zu finden, verschließen sich die Bilder wieder. Alles abbildhafte Interpretieren - Wolken, Wellen, Erde, Organisches - wird schnell Spekulation, und wir stoßen an die sehr dichte materialreiche Oberfläche der Bilder, eine Oberfläche, die ebenso vielversprechend wie undurchdringlich scheint. Was hier pastos, erdig, voluminös den Boden zu meinen scheint, erscheint dort oberhalb des Horizonts wo ein duftiger Himmel erwartet wird. Offenbar geht es keineswegs um Landschaftsabbildungen.
Perspektiven
Gute Rätsel sind schrittweise zu lösen, mit Richtungsänderungen. Wir setzen bei den Figuren an. Sichtbar und benannt ist in vielen Bildern der Mensch präsent, in genau dieser existentiellen Formulierung: der Mensch. Wir entdecken ihn in umrisshafter Silhouette, als gesichtslosen Kopf, in schemenhaft vereinzelten Gestalten, ohne individuelle Merkmale, aber als Wesen, als Figur isoliert. So wie die Landschaft auf die Benennung des Horizonts reduziert ist, so ist der Mensch auf seine reine Existenz, seinen Begriff zurückgeführt.
Ich habe bisher zwei Gruppen von Bildern herangezogen, die rein äußerlich, schon farblich, in dieser Ausstellung unterscheidbar sind. Aber fehlt der Mensch denn in den blauen Horizontbildern? Der Blick in ferne Gestade setzt den Blick und damit den Schauenden voraus. Der Horizont - in der ganzen philosophischen Mehrdeutigkeit des Begriffs - existiert nicht absolut, ist in keinem Atlas und auf keinem Globus eingezeichnet. Nein, der Horizont wird definiert von uns aus, von mir aus.
Und plötzlich merke ich: dieser Blick in eine Tiefe, in einen Raum oder eine Zukunft im Sinne von Ziel, der ist ja mein eigener. Ich projiziere dort hinten in den Lichtstreifen meine Hoffnungen und Ängste, meine Vorstellungen hinein. Das ist mein Rätsel, dorthin möchte ich gehen, könnte ich gehen, darf und werde ich gehen. Aber wieweit ich auch gehe, der Horizont wird immer weit voraus liegen und neue Rätsel aufgeben. Der Athener Soldat, nach langem Marsch und antikem Schlachtgetümmel das Meer erreichend, ruft aus: Thalata - das Meer, mein Meer, und das bedeutet: "die" Perspektive.
Insofern ist auch in diesen Bildern der Mensch das Thema, nicht die Landschaft. Ihr großes ernstes Thema ist nichts weniger als die existentielle Konfrontation des Menschen, jedes einzelnen, mit der Welt vor ihm und um ihn herum. Die beiden Bilder "Spuren" gehen auf ein Gedicht Michelangelos zurück: "Des Todes sicher, nicht, der Stunde, wann".
Paradies
Doro Koidl hat in dieser Ausstellung eine eigentümliche, fast theaterhafte Installation eingerichtet, die deutlich, überdeutlich, darauf hinweist. Ich meine das Bild "Paradise Lost". Zwei Figuren, durch den Bildtitel und ihre Statur als Mann und Frau - also die Menschheit - interpretierbar, stehen sich gegenüber, in der Tiefe entfaltet sich ein dunkler Raum mit einem nicht definierten Etwas im Zentrum. Ratlosigkeit, Existenzangst, aber auch Aufeinanderzugehen, Kommunikation im Angesicht der unendlichen fragwürdigen Zukunft sind spürbar. Zwischen diesen beiden Gestalten, die das Paradies und ihre Unschuld verloren haben, also begonnen haben, Fragen zu stellen, blicken wir als Betrachter hindurch auf den undeutlichen Horizont, der vielleicht auch aus einem Nichts besteht. Uns vorgemacht wird der Blick durch die einzige Plastik in dieser Ausstellung, jene Bronzefigur in all ihrer erdigen Plumpheit, die auf einem leicht ansteigenden Boden steht, verharrt und auf dieses Drama schaut. Ihr Titel, nicht ohne Ironie: "Die Perspektive des Weltbürgers".
Das sind wir, abgeklärt, alles schon gesehen, alles Menschliche ist uns geläufig, auch die Kunst gibt uns keine Rätsel mehr auf, um uns herum nur Bilder, Smalltalk, Muster, Teppiche, Tapeten.
Ich bin jetzt sehr weit gegangen, um ihnen einen Königsweg in die Bilder zu zeigen. Und ich gehe wieder zurück. Denn wir reden ja nicht über einen philosophischen Text, sondern über Bilder. Ich halte noch einmal fest: Es geht um den Menschen und es geht um die Welt, die Erde, das Universum. Wie kommen beide zusammen?
Materie
Doro Koidl erschafft ihre Bilder in einem sehr langen, komplexen Arbeitsprozess, wie jedes künstlerische Arbeiten zwischen der Skylla des kalten Kalküls und der Charybdis des willenlosen Hervorbrechens, will sagen: sie wendet experimentelle Methoden an. Wir haben hier einerseits Bilder in Acrylmalerei, d.h. Farbpigmente werden in Acryl, einem Kunststoff, gelöst und aufgetragen. Zum anderen, und das mag das Exotischere sein, die Lösung der Farbpulver in flüssigem, d.h. heißem Wachs, Enkaustik genannt. Dieses sehr alte Verfahren, sie finden es schon bei den Römern und Ägyptern, reizt geradezu zu alchemistischer Experimentiererei. So wird von der Künstlerin bisweilen Sand beigemischt, es wird in vielen Schichten aufgetragen, es wird wieder abgeschliffen, geritzt, geschabt, hineingeschrieben, überdeckt, durch Bügeleisen wieder verflüssigt, also richtig rumgesaut. Und: Pigmente werden aufgestreut, vor allem Blau. Das Ergebnis sind Flächen in unterschiedlichster Struktur, teils glänzend, teils stumpf, teils pulverig, teils glatt, man möchte es tastend erkunden - sollte es aber nicht.
Ein Weiteres kommt hinzu, und dies ist vor allem bei den Figuren zu sehen: Papiere werden hineingeklebt, gerissene Formen, sie werden in die Malschichten hineingearbeitet, teils übermalt, aber sie heben sich irgendwo ab, sind fremdes Element.
So entsteht eine organische Welt, deren Zusammensetzung nicht mehr analytisch nachvollziehbar ist, das, was wir Schöpfung nennen. Die beiden großen Themen der Malerin: die menschliche Gestalt und ihr Gegenbild, das, wohinein wir Menschen geworfen sind, werden verwoben, verschränkt, auf ihre gemeinsame Wurzel zurückgeführt.
Was ist jetzt das größte Rätsel? Das größte und intelligenteste Rätsel war vermutlich das Rätsel der Sphinx in der Sage des Ödipus. Welches Wesen auf der Erde ist vierfüßig, dreifüßig und zweifüßig zugleich? Als Kind auf Händen und Füßen, als Greis mithilfe des Stocks, als erwachsener Mensch auf zwei Beinen, dem Horizont entgegen. Die Antwort: Sie wissen es schon: der Mensch.
Und jetzt ein Sprung ins Bild. "Den blauen Fluss hinunter" heißt dieses Gemälde, ohne Horizont, ohne Perspektive, aber mit gewaltiger Richtung. Springen wir hinein!
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