Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Gabriele Strecker: Malerei“ in der Villa Clementine, Wiesbaden, am 5. Februar 1999
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Die Bilder von Gabriele Strecker tragen eine Handschrift. Keines ist wie das andere, aber doch sind sie alle als Werke aus einer Hand wiederzuerkennen. Man spürt eine Konsequenz und eine Kontinuität der Auseinandersetzung mit bestimmten sie interessierenden Gestaltungsproblemen. Gleichzeitig - und dies ist durchaus kein Widerspruch - begegnet einem in den Bildern immer wieder eine Unbefangenheit, eine Vitalität und - ich gebe erste Eindrücke wieder - Mut und Selbstsicherheit. Nein, diese Bilder sind nicht das Ergebnis langer Vorstudien, Konzepte und Planungen, sondern Äußerungen von jemandem, der seine Sprache gefunden hat.
Wie kann man die Sprache einer Malerin entschlüsseln?
Der erste Schritt könnte eine Bestimmung der Elemente sein.
Das Alphabet der Gabriele Strecker ist überschaubar.
Derzeit und in dieser Ausstellung auszumachen sind nur wenige Farben: Die Skala zwischen Schwarz und Weiß, meist kombiniert mit nur einer Zusatzfarbe, hier Gelb, Siena oder Blau. Andere Farben tauchen auch im Gesamtwerk bisher nur vereinzelt auf.
Man kann weiterhin ausgemalte Flächen, dicke Pinselstriche und dünne Schreibspuren unterscheiden.
Im Formenvokabular fallen zunächst zeichenhafte Elemente auf: Streifen, Kreuze, Pfeile, Kreise und Ovale, aber auch Fragmente der Gegenstandswelt: Formen, die an Boote erinnern, Stuhlflächen, Gefäße, man mag auch Bürsten erkennen.
Die Platten sind fast immer durch waagerechte oder senkrechte Grenzen rechtwinklig geteilt, häufig tauchen innerhalb des Bildes auch rechteckige Flächen auf, teilweise in Reihungen. Auch Experimente mit mehrteiligen Bildern sind zu sehen.
Das Werkzeug und Material: Acrylfarbe als schnelles, d.h. schnelltrocknendes Medium, das der Künstlerin langes Warten während der intensiven Arbeitsphasen erspart. Dazu Kreiden für die skripturalen darüber gesetzten Zeichen. Als Malgrund dient die Hartfaserplatte, die der Gestik mehr Widerstand bietet als Leinwand. Wenn Leinwand, dann in kleinen Formaten, nicht auf Rahmen gespannt, sondern als grob ausgeschnittenes Skizzenblatt, eigentlich wie Papier oder Karton benutzt.
Ein Experiment der letzten Zeit ist das Arbeiten auf dicker weicher Plastikfolie, deren Transparenz beim Bemalen allmählich verschwindet, und deren glatte Oberfläche die Farbe länger feucht lässt. Das Nass-in-Nass-Arbeiten mit allen Möglichkeiten der Verläufe, des Mischens auf dem Blatt und des Wieder-Abschabens der Farbe wird derzeit erprobt.
Wie ist das Kunstwerk gemacht?
Nun ist mit der lexikalischen Auflistung des Vokabulars eine Sprache beileibe nicht erfasst - sowenig wie man eine fremde Sprache allein durchs Vokabellernen begreifen kann. Wir brauchen also Grammatik-Kenntnisse. Damit - das merken Sie - wird es gleichzeitig interessant und kompliziert. Geht es doch darum, Sätze zu finden, die das Werk der Malerin - also die Produkte ihrer eigenen Sprache - beschreiben, und zwar so, dass wir ihre innere Struktur besser verstehen. Die einfache, banal klingende, aber notwendige Frage lautet: Wie ist das Kunstwerk gemacht?
Und damit ist nicht die Technik der Herstellung gemeint, sondern dahinter steht die Neugier: Wie macht sie's denn? Wie geht sie vor? Was passiert mit ihr, während sie malt, und was vorher und hinterher?
Zwei Erklärungswege schließen sich meiner Meinung nach von vornherein aus. Zum einen: Die Malerin hat keine Abbildungsabsicht. Dritte Dinge außerhalb des Bildes sollen nicht transportiert werden, ob es nun materielle oder ideelle Begriffe sind. Es wird nichts dargestellt, vermittelt, abgebildet, gemeint. Die Suche nach Gegenstandsbezügen führt nur zu Hilfskonstruktionen unserer Verständigung.
Wenn Sie nun sagen: Aber ich sehe da oder dort eine Horizontlinie, hier einen Kampf von Formen usw., dann ist Ihnen das unbenommen, aber Sie sollten sich bewusst sein, dass Sie damit mehr über sich selbst sprechen als über das Bild. Sie beantworten die Frage: Was macht das Bild mit mir? Eine sicherlich interessante Frage, aber nur ein Aspekt des Problems.
Gut, nun gab es immer bei sogenannter gegenstandsloser Malerei die Tendenz, und dies ist der zweite Holzweg, nach der psychischen Befindlichkeit der Künstlerin oder des Künstlers zu suchen - also wieder nach etwas Drittem, das außerhalb des Bildes und unabhängig von ihm existiert. Man kann dies Psychologisierung nennen, und in der Tat legen manche Selbstäußerungen von Künstlern derartige Versuche nahe. Man sollte übrigens diesen Selbstäußerungen der Künstler mit Misstrauen begegnen. Denn sie sind ja, was die gesprochene und geschriebene Sprache angeht, meistens ebenso Laien wie wir als Betrachter.
Was ist „Ausdruck“?
Das gefährliche Wort, und auch in der Beschäftigung mit Gabriele Strecker taucht es schnell auf, heißt "Ausdruck". Da wird vermutlich irgendetwas Numinoses ausgedrückt. Notfalls drückt die Künstlerin sich selbst aus. Und da gehen nun Betrachter wie Feuilletonisten auf die Suche nach diesem Etwas, das da ausgedrückt wird, und wenn Sie ehrlich sind, meine Damen und Herren, beschleicht einen schnell ein Unbehagen gegenüber all den nebulösen Begriffen, die einem da so einfallen mögen. Auch hier nur Hilfskonstruktionen, da uns eigentlich die Sprache fehlt.
Psychische Phänomene spielen ohne Zweifel auch eine Rolle bei der Herstellung von Bildern, diese sind ja schließlich Menschenwerk. D.h. auch dieser Aspekt ist legitim zu untersuchen, aber er führt, wenn er der einzige bleibt, ebenfalls in eine Sackgasse. Wir wollen ja gar nicht wissen, wie ein Künstler sich fühlte und was er dachte, als er ein Bild malte. Und sollten wir uns tatsächlich dafür interessieren und womöglich eine sinnvolle Annahme dazu bilden, und wir fragen dann zurück ans Bild: Warum hat er sich nun so und nicht anders ausgedrückt in der unendlichen Zahl von Gestaltungsmöglichkeiten? Dann sind wir genauso klug wie am Anfang und haben über das Bild eigentlich nichts erfahren.
Gibt es eine Grammatik?
Das Bild nämlich, darauf will ich hinaus, besitzt eine Eigengesetzlichkeit, eben eine Grammatik, und diese realisiert sich - bei dieser Art von Kunst, es gibt durchaus andere - im Prozess des Malens. Ich will zur Verdeutlichung beim Bild der gesprochenen Sprache bleiben: Wenn Sie einen deutschen Satz mit bestimmten Worten beginnen, können Sie ihn nicht beliebig, sondern nur mit einer begrenzten Auswahl von Möglichkeiten fortsetzen, sonst wird er falsch.
Jetzt aber der entscheidende Unterschied: Wenn die Malerin Gabriele Strecker ein Bild beginnt, mit einer Geste, einem Pinselstrich, dann erfindet sie auch die Sprache neu. Mit der ersten Setzung sind gleichzeitig bestimmte Möglichkeiten der Fortsetzung ausgeschlossen - zumindest für die Malerin selbst - als auch unendlich viele neue Möglichkeiten eröffnet. Die Antwort auf die erste Farbspur auf der Platte schließt wiederum ein Universum möglicher Bilder aus, und erschließt dafür ein neues.
So entsteht allmählich die Sprache des Kunstwerks, die für uns Betrachter später so lustvoll zu entschlüsseln ist. Es ist eben auch nicht nur grammatische Konstruktion, sondern auch Spiel. Die Regeln des Spiels formuliert die Künstlerin, aber erst im Arbeiten, im Bild selbst, und ohne dass sie diese Regeln, die vielleicht nur für dieses eine Werk, für diesen einen Moment gelten, vorher oder hinterher theoretisch formulieren könnte. Aber sie weiß: Es gibt Regeln. Wir bewegen uns jenseits von aller Beliebigkeit. Und es ist, wie gesagt, eine deutlich ausgeprägte Handschrift auszumachen.
Man könnte jetzt versuchen, diese autonomen Gesetze der Bilder von Gabriele Strecker zu formulieren, typische kompositorische Entscheidungen analysieren, syntaktische Verknüpfungen der Bildelemente herausarbeiten. Ich will Ihnen diese Arbeit nicht abnehmen, sondern nur ein Gedankenwerkzeug dafür bereitlegen. Ebenso wenig will ich Sie mit Kategorien und kunstgeschichtlichen Orientierungen beschäftigen.
Vielleicht nur eines: Der Malprozess bei Gabriele Strecker bewegt sich zwischen eher spontanen und eher ordnenden Aktionen. Sie überlässt sich nicht einem rauschhaften action painting, sondern tritt immer wieder zurück, nimmt zurück, reduziert die ungestüme Geste durch eine ruhige Fläche, auf die dann vielleicht wieder eine heftigere Aktion folgt. So bewegt sie sich ständig zwischen Ausbrüchen und Ordnungsversuchen.
Das Bild steht
Am Ende, wenn das Bild ruht, die Farbe trocken ist, sind von den Bewegungen und Entscheidungen Spuren geblieben. Aus dem Nacheinander ist ein Neben- und Übereinander geworden, gleichzeitig treten die Bildelemente uns entgegen, gleichgewichtig, besser: in einer ausgewogenen Spannung - wenn das Bild gut ist. Zumindest erleben wir Bilder als angenehm, wenn Irritation und Ordnung, Gestik und Gerüst, Fragen und Antworten sich die Waage halten. Die für mich stärksten Bilder sind dabei jene, die sich mutig auf die geringsten malerischen Setzungen verlassen.
Nun haben Sie vielleicht den Eindruck, ich will sowohl die Welt als auch die Malerin ganz aus der Diskussion der Bilder heraushalten. Mitnichten.
Es gibt einen dummen Witz aus Rheinhessen, also dem Hinterland von Mainz. Da steht ein Bauer auf dem Feld und wird von seinem Nachbarn gefragt: "Na Bauer, stehst du da und denkst?" antwortet der Bauer: "Nein, ich steh' nur".
Das stimmt natürlich nicht, denn: Man kann nicht nichts denken. Und das Bild, trotz aller Eigengesetzlichkeit, malt sich nicht von allein. In jedem Moment werden Entscheidungen getroffen, darüber, wohin die Hand geht, welches Werkzeug jetzt dran ist, welche Bildteile weiterbearbeitet und welche stehen gelassen werden, und nicht zuletzt: Wann beginne ich überhaupt und, ebenso wichtig: Wann höre ich auf?
Gabriele Strecker trifft diese Entscheidungen mit großer Souveränität. Gestatten Sie mir versuchsweise eine Annahme: Wer sich lange genug mit den Menschen beschäftigt hat, wird frei für die Kunst.
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