Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Deux à Paris - Liesel und Johannes Metten" im Atelier am Strom, Bacharach, 12. Juni 1999
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
in kaum einer Situation ist der Künstler derart mit der Frage nach dem eigenen Tun konfrontiert wie bei einem Arbeitsaufenthalt in einer anderen Stadt, einem anderen Land, sei es ein Stipendium, sei es eine Studienreise. Es steht vom ersten Moment an die Frage im Raum, fast drohend: Was tue ich jetzt hier? Was tut die Stadt mit mir? Wie reagiere ich auf Sie? Ist das überhaupt gut für mich und meine Arbeit, dass ich hier bin? Wie verändert sich meine Kunst? Verändert Sie sich überhaupt? Kann ich hier arbeiten? Kann ich womöglich sogar besser arbeiten? Was werde ich mit nach Hause bringen? Und so weiter.
Reisespuren
Dem entsprechen dann die Fragen, welche die anderen stellen, und das sind die Fragen, die auch uns heute hierher geführt haben. Es ist eben keine "normale" Ausstellung, sondern wir sind all ein bisschen neugieriger, schauen vielleicht ein bisschen genauer hin, wollen die Spuren der Stadt Paris in den mitgebrachten Arbeiten von Liesel und Johannes Metten entdecken.
Das ist, Sie haben es beim ersten Rundgang schon gemerkt, zunächst auch gar nicht schwer, zumindest was Liesel Metten betrifft. Der erste Raum empfängt Sie bereits mit einer Bearbeitung eines geradezu klassischen Paris-Motivs, der Notre Dame. Millionenmal fotografiert, man wundert sich, dass die Kirche überhaupt noch zu sehen ist, soviel Blicken musste sie standhalten, jetzt kommt die Liesel aus Nieder-Olm, und auch sie hat den Fotoapparat in der Hand. Aber, oh Schreck, und da war Notre Dame vielleicht doch einmal ganz kurz beleidigt, die Liesel wendet sich von ihr ab, schaut nicht ehrfurchtsvoll nach oben, sondern irgendwo auf den Boden und fotografiert nicht das würdige Original, sondern ein Spiegelbild, noch dazu in einer alten Pappkiste, am Bordstein, in schmuddeligen Mauerecken, und umgeben vom zertretenen Pflaster und dem Straßenmüll.
So eingepackt und in die Kiste gebannt, kann die Künstlerin die Notre Dame mit nach Hause nehmen, aufs Tragbare verkleinert, ein Stück Paris, das eher wie ein Fundstück aus dem Sperrmüll aussieht, ein Souvenir ohne Aura.
Zugreifen oder Warten?
Bisher habe ich über den künstlerischen Akt gesprochen, der hier ironisch, zwar heiter aber auch völlig respektlos die Vereinnahmung eines touristisch begehrten Weltwunders nicht nur durch den Fotoamateur, auch durch den Künstler karikiert - Man stelle sich als Gegenbild den Maler mit Baskenmütze und Staffelei vor dem berühmten Motiv vor. Aber dieser Akt hat auch ein Ergebnis: eine Serie ungewöhnlicher Blicke wird uns präsentiert, nie gesehene Ausschnitte, die Notre Dame als Bild im Bild und in Relation zu scheinbar ungeformtem, unwichtigem, nebensächlichem Material.
Liesel Metten geht also die zu Beginn aufgeworfenen Fragen durch aktives, gar freches Zugreifen an. Nicht: Was macht die Stadt mit mir? Sondern: Ich mache jetzt etwas mit der Stadt. Diese Haltung ist in den meisten anderen ihrer Arbeiten in diesem Hause wiederzufinden. Darauf kommen wir zurück.
Ganz anders Johannes. Auch er thematisiert die Konfrontation mit der neuen Situation, aber er wartet, und mit ebendiesem Warten beschäftigt er sich in Paris. Sein Monument, an dem er arbeitet, ist ein literarisches: Das berühmte Warten des Samuel Beckett, das Warten auf Godot. Dabei geht es nicht um Illustration, sondern, ich möchte sagen, um Parallelität. Johannes Metten wartet erst einmal, und er beginnt im Atelier mit Wachsmalstiften, die er schon eine Weile besitzt, nie recht benutzt und jetzt einfach mal mit nach Paris genommen hat, zu zeichnen, erst kleine einfache Formen, eigentlich, um die Stifte auszuprobieren, und er merkt, dass sich auf dem Arbeitstisch, an dem er sitzt wie viele, viele andere Künstler vor ihm, das Material, die Tischoberfläche mit ihren Spuren durchreibt, die Geschichte des Materials, ohne sehr aufwendiges Dazutun, eigentlich im Warten.
Und allmählich entsteht eine Chronologie des Wartens, und Johannes entdeckt, dass da schon einmal einer gewartet hat, vor genau 50 Jahren, 1948 schrieb Beckett sein Stück. Und das war das Jahr, in dem Johannes aus Nieder-Olm weggegangen ist, da scheint eine Parallelität, eine Beziehung auf, und Beckett wird das Thema von Johannes Metten in Paris.
Ein roter Faden
Auch hier habe ich zuerst vom Entstehungsprozess der Arbeiten gesprochen, dieser und die damit verbundenen Gedanken sind wichtig, um ihnen näher zu kommen. Was nämlich in den Blättern, die alle "Warten auf Godot" heißen, sich entwickelt, ist ein - ich möchte es einmal nennen: architektonisches Warten, ist ein Ruhen von Gewichten in drei, vier unterschiedlichen Konstellationen. Ein Quadrat oder zwei Rechtecke, auf denen schmale Streifen ruhen wie Balken, schließlich das farbige Quadrat ganz selbständig, in sich ruhend, monumental. Zwei waagerecht liegende Rechtecke, die eine schmale Form zwischen sich halten und zu pressen scheinen. Druck wird spürbar. Die schmalen Streifen werden beweglich, wellenförmig, brechen aus der Statik aus oder werden wiederum in sie eingezwängt. Eine lange Serie von Variationen eines begrenzten Formenkanons in einer geradezu experimentellen Anordnung. Nur logisch, dass Johannes Metten seine Formen auch gebaut hat, später, wieder in Deutschland, aber ebenso leicht, heiter und gelassen wie die Zeichnungen.
Denn das Warten ist kein dumpfes Brüten, ist weder Angst vor dem Kommenden noch Langeweile, kein Erwarten von etwas Bestimmtem, auch kein vorsichtiges Abwarten, sondern im Grund die einfachste Form der Existenz. Ich bin. Ich warte.
Und es wird etwas kommen. Da sitzen Johannes und Liesel Metten in Paris auf einer Parkbank oder im Straßencafe, gegenüber eine Telefonzelle, und das Leben - völlig unabhängig von ihnen, geht seine Tausenden parallelen Wege, Menschen begegnen sich, warten darauf, dass das Telefon frei wird, telefonieren, spinnen ihre Fäden weiter. Der Fixpunkt, wenn man einen formulieren will: "Paris Montmartre 0033-1-43264270" - mit dieser Telefonnummer ist die Fotoserie betitelt.
Oder man folgt einem eigenen roten Faden, der sich bisweilen verformt, Schriftfragmente bildet, Knäuel und Knoten macht, auf seinem Weg zu einem Herzen wird, auch häufig sich ganz einfach durchs Bild schlängelt, man muss nur warten.
Überhaupt die Form: Form ist, so kann man sagen, ein Energieimpuls, der Materie ungleichmäßig verteilt. Somit ist in der Form zweierlei: Der Prozess und der Augenblick. Diese Eigenschaft der Form können Sie in allen hier ausgestellten Arbeiten wiederfinden. Sie zeigt sich auch besonders einfach und logisch in den kleinen Winzerdraht-Objekten von Liesel Metten. Man sieht in ihnen praktisch noch die Finger der Künstlerin, die sie formen.
Darüber, inwieweit Kunst-Form und Natur-Form sich in diesen Eigenschaften ähneln oder unterscheiden, könnte man philosophieren, auch anhand des Tuches, das hinter mir hängt, und auf dem Fotografien von Öllachen in Wasserpfützen auf der Straße abgedruckt sind.
Der Lauf eines Flusses
Die Mettens haben uns im Hause einige Texte verteilt, die Hinweise auf solche Gedanken geben. Einer der schönsten ist von Jean Giraudoux: "Das höchste der menschlichen Freiheitsgefühle ist, schlendernd dem Lauf eines Flusses zu folgen." Der Satz gehört zur Arbeit mit der Flaschenpost, die - gefüllt mit dem Brief von Victor Hugo, in dem er die Stadt Bacharach preist - in Paris in die Seine geworfen wird und auf wundersame Weise in den Rhein gelangt und hier am Ufer ein Jahr später wieder angespült wird. Auch hier also erzählen uns die beiden Künstler eine Geschichte, Liesel Metten dokumentiert mit Fotos einen Werkprozess, von ihr selbst in Gang gesetzt, zumindest gedanklich provoziert, ein Land-Art-Konzept, das die Verbindung zwischen Paris und Bacharach auch konkret greifbar machen soll, bei aller Ironie dieser kleinen Idee. Und diese Verbindung ist eben nicht geographisch, auch - trotz Victor Hugo - nur bedingt historisch bedeutsam, sondern sie wird durch die Menschen und ihre Gedanken gestiftet. Wenn die Künstler in Paris sind, haben sie ihr Bacharach und ihr Nieder-Olm dabei, sind nicht ein unbeschriebenes Blatt oder eine Wachstafel, in die eine neue Umwelt einfach ihre Spuren eingräbt. So unbedarft ist das Warten nicht.
Und jetzt sind wir schon ganz weit weg aus Paris und gleichzeitig mitten drin. Denn die Antworten auf die Fragen der Zeit besteht nicht in Landschafts- oder Vedutenmalerei, in mehr oder weniger virtuosen Stadtansichten, aus denen man alle zwei Jahre Hochglanzbildbände machen kann. Die Stadt, um die es geht, ist in uns und nicht vor uns. Wir müssen sie in den Gedanken und nicht in den Abbildern suchen, auch wenn die scheinbaren Abbilder uns bisweilen die Sicht verstellen.
Die Bilder warten
Meine Damen und Herren, ich habe versucht, einige der Fragen zu formulieren, an denen Liesel und Johannes Metten gemeinsam arbeiten, bei allen Unterschieden in den von den beiden gefundenen konkreten Formen. Über manches könnte man noch sprechen: die tatsächlichen Erlebnisse und alltäglichen Erfahrungen in Paris, über das Marais-Viertel, in dem die beiden wohnten, über die Literaten und Denker, die für beide so wichtig sind: Beckett, Hugo, Heine, Holzamer, über die Gemeinsamkeit eines Künstlerpaares an sich, denn einige Monate in so großer Nähe zusammen oder nebeneinander zu arbeiten, ist auch für sie ungewohnt. Fragen Sie die beiden am besten selbst.
Aber es geht ja nicht nur um die beiden Künstler, die Stadt Paris und die dort entstandenen Werke. In dieser Konstellation fehlt noch etwas, und das sind wir anderen, sind Sie alle. Da gibt es nämlich noch ein Warten, und darüber hat Beckett auch gesprochen. Ich möchte ihn gern zitieren, und erschrecken Sie nicht beim letzten Wort. Es spricht aus ihm keine Bitterkeit, sondern, so glaube ich, Gelassenheit. Beckett sagt in "Die Welt und die Hose":
"Das fertige, nagelneue Bild ist so, wie es da ist, sinnlos. Denn noch ist es nur ein Bild, es lebt vorerst nur aus Linien und Farben, hat sich allein seinem Urheber erschlossen. Man stelle sich seine Situation vor. Es wartet darauf, dass man es da herausholt. Es wartet auf die Augen, die es Jahrhunderte lang, denn es ist ein Bild mit Zukunft, mit Leben befrachten, es schwärzen werden mit dem einzigen Leben, das zählt, das der Zweifüßler ohne Federn. Es wird daran krepieren. Einerlei."
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