Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Skripturale Malerei“ von Sonja Scherer
im „Thalhaus“ Wiesbaden, am 1. Oktober 2006
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
„Skripturale Malerei“ ist diese Ausstellung von Sonja Scherer überschrieben, und wir sind damit schon mitten drin im Fragen: Was ist Schreiben, was ist Malen?
Wenn Sie die gerahmten Papierarbeiten und die Arbeiten auf Leinwand betrachten, spüren Sie es vielleicht: Hier wurde nicht nur gemalt, hier wurden nicht nur mit den verschiedensten Techniken farbige Flächen gestaltet, sondern es sind auch Zeichenspuren auszumachen. Waagerechte Reihungen wie Schriftlinien, Zeilen, die sogar im Über- und Untereinander eine Art Textstruktur ahnen lassen, Reihen und Spalten, horizontal-vertikale Gliederungen, aber alles offenbar von gestisch und ungeordnet – also in anderer Ordnung – hingeworfenen und hineingearbeiteten Farbflecken überlagert.
Der Eindruck trügt nicht. Sonja Scherer, die man auch schon „zeichnende oder schreibende Malerin“ genannt hat, beginnt ihre Arbeit mit einem Schreibgestus. Stellen Sie sich eine charakteristische Handbewegung vor, die das Schreiben mit der Hand symbolisiert. Genau diese geradezu natürliche, in uns schon fast angeboren verwurzelte Geste des Schreibens ist die erste Bewegung auf dem Blatt. Und dabei geht es, wenn ich die Künstlerin richtig verstehe, nicht um Inhalte, sondern um das Zeichen an sich.
Wann wird ein Zeichen zum Zeichen?
Die Entstehung von Schrift kommt hier als Gedankenhintergrund in den Sinn, und zwar in einem menschheitsgeschichtlich frühen Stadium. Der Übergang vom Bild zur Schrift. Bilderschrift. Schriftzeichen und „Schrift Zeichnen“. Es ist nicht verwunderlich, dass die Künstlerin die Nähe zu Kulturen sucht, die eine kalligraphische Tradition haben, die mit Bildschriften – und eben nicht mit phonetischen Alphabeten – leben. Wer Sonja kennt, weiß von zahllosen Reisen nach Asien. Und in manchen Bildtiteln wird diese Nähe deutlich thematisiert: Eine ganze Serie von Arbeiten ist „nach China“ entstanden und so benannt. Das lange Hoch- oder Querformat sorgt für einen weiteren Bezug: das asiatische Rollenbild aus Kalligraphie und Tuschemalerei.
In diesem Zusammenhang taucht das Stichwort „Teezeremonie“ auf, die wir in der streng rituellen Form vor allem aus Japan kennen, die aber in China in den eher erdverbunden-praktischen Vorschriften der möglichst schmackhaften Zubereitung hochwertiger Tees ihre Wurzeln hat. Das Zeichen, das Sonja Scherer hier verwendet, hat sogar eine Bedeutung, ist entschlüsselbar, auf Anhieb erkennbar wie ein archetypisches Symbol: es ist die Schale, in ihrer einfachsten Form. Einmal sind es sogar vier Schalen nebeneinander, wie vier Bildzeichen oder vier gleiche Worte.
Das wohl älteste, ursprünglichste Gefäß, entwickelt aus den beiden Händen, die zusammengefügt eine Vertiefung formen, und im asiatischen Raum noch heute mit dieser Geste, die die Schale umschließt, überreicht – mit allen erdenklichen Inhalten und in vielen Verwendungszusammenhängen. Was würden Sie, schiffbrüchig auf der berühmten einsamen Insel und ohne jede Küchenausrüstung, sich aus Ton als erstes formen? Eine Schale natürlich.
(Wann und warum hat man bei uns eigentlich die Tasse mit dem Henkel erfunden?)
Zurück zu den Bildern. Die Schale, die Teeschale, haben wir als Bildzeichen erkannt und gedeutet. Ja, geht es denn überhaupt ums Erkennen, ums Lesen womöglich?
In Büchners Woyzeck gibt es, gleich am Anfang, einen berühmten Dialog:
WOYZECK legt den Finger auf die Nase: Die Schwämme, Herr Doktor, da, da steckt 's. Haben Sie schon gesehn, in was für Figuren die Schwämme auf dem Boden wachsen? Wer das lesen könnt!
DOKTOR: Woyzeck, Er hat die schönste Aberratio mentalis partialis, die zweite Spezies, sehr schön ausgeprägt. Woyzeck, Er kriegt Zulage! Zweite Spezies: fixe Idee mit allgemein vernünftigem Zustand. – Er tut noch alles wie sonst? Rasiert seinen Hauptmann? und so weiter
Hans Magnus Enzensberger greift daraus einen zentralen Satz auf in seinem Gedicht „Flechtenkunde“. Ich lese Ihnen ein Stückchen, denn wir sind nah beim Thema:
daß die Steine reden,
soll vorkommen.
aber die flechte?
die flechte beschreibt sich,
schreibt sich ein, schreibt
in verschlüsselter schrift
ein weitschweifiges schweigen:
graphis scripta.
sie ist der erde
langsamstes telegramm,
ein telegramm das nie ankommt:
überall ist es schon da,
auch in feuerland,
auch auf den gräbern.
"wer das lesen könnt!"
leichter entziffert sich
der bart, der papyrus,
der schattenriß, das gehirn,
als diese trockene lunge.
Des Doktors naive Diagnose: „Zweite Spezies: fixe Idee mit allgemein vernünftigem Zustand“ – ist das nicht die Definition des Künstlers?
Und andererseits: diese Deutungstendenz, dieses Hineinlesen von Inhalten oder Begriffen in unklare, wuchernde, natürliche oder zufällige Formen, Physiognomisierungstendenz, wenn es um Gesichter geht, erhöhter Symbolismus, allgemeiner ausgedrückt – das kennen wir doch, beim Blick in die Wolken, auf Bäume, Steine, Berge, Wellen, Sand, mit und ohne Beteiligung von Rauschmitteln. So entdeckte Max Ernst die Frottage, beim Blick auf den gescheuerten Holzfußboden mit seinen „Gesichten“ in der Maserung.
Und in abstrakten Bildlandschaften? Haben Sie nicht alle schon einmal Dinge in die Bilder hineingesehen, auch wider besseres Wissen, denn es sind ja gegenstandsfreie, autonome Gebilde ohne Bedeutungsebenen im Sinne von Abbildung, auch bei Sonja Scherer, die sich allerdings auf einer Grenzlinie befindet, sonst würde sie nicht mit Titeln und vorsichtigen Zeichen Assoziationen provozieren. Symbole sind bildhafte Vorstadien der Begriffe. Wie sich daraus ein ganzes weitreichendes Bedeutungsfeld entwickelt, haben wir an der „Schale“ gesehen.
Ein Stichwort noch aus der „Flechtenkunde“, es verweist auf ein weiteres Merkmal in der Arbeit der Künstlerin: Papyrus, und damit ist ein Entstehungs- und Entschlüsselungszusammenhang angesprochen, der eine lange Geschichte hat. Sonja Scherer überarbeitet ja ihre Schriftzeichen, sie übermalt und überstreicht, wischt aus, kratzt frei, lässt stehen, unter Verwendung der unterschiedlichsten Techniken und Materialien. Es entstehen damit Palimpseste.
Der Ausdruck bezeichnet ursprünglich die Tatsache, dass Papyri und andere Manuskripte durch Schaben oder Waschen gereinigt und dann neu beschrieben wurden, in der Antike und im Mittelalter, dadurch konnte man das wertvolle Material mehrfach verwenden. Spuren der früheren Schrift blieben natürlich erhalten und können sichtbar gemacht werden.
Was einst aus der Not entstand, wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts zur Metapher, z. B. bei Sigmund Freud für das menschliche Gedächtnis, auch für das Gehirn – für Enzensberger auch eines der unlesbaren Gebilde - und mit der Moderne wird „Palimpsestieren“ zur bewusst eingesetzten künstlerischen Arbeitstechnik, in der Literatur wie in der Bildenden Kunst, ob mit dem Wort selbst so bezeichnet oder nicht. Die Wiederverwendung vorgefundener und bereits bedruckter oder beschriebener Papiere etwa gehört hierher, im Kubismus, bei der Gruppe CoBra, bei Joseph Beuys und in vielen anderen Zusammenhängen.
(Das modernste Palimpsest ist vielleicht die Festplatte.)
Sonja Scherer schafft Palimpseste, aber durch Wiederbearbeitung des selbst Geschriebenen. Wie dann der Versuch der Entzifferung betrieben wird, ob man ihn angehen soll und wie er ausgeht, das ist die offene Frage. „Wer das lesen könnt!“
Jetzt habe ich lange über nur die eine der beiden Werkgruppen gesprochen, die heute zu sehen sind, und die großen und prominenten sogenannten „Faltbilder“ noch gar nicht berührt.
Wenn Sie wollen, können Sie in Ihnen die vertikal-horizontale Gliederung der Schriftbilder wiederfinden. Und die beiden zweiteiligen, an Stäben hängenden Papierarbeiten beziehen sich, wie die Künstlerin selbst erklärt, auf diese archaische menschliche Transportweise mit Bambus- oder Holzstäben, Wasserträger eben, wie sie auch in Asien noch häufig zu finden sind.
Die Faltbilder verlassen die flache Ebene und werden zum Relief, zur Wandskulptur, haben plastische Qualität, nicht ohne eine optische aus der Malerei erwachsene zusätzliche Bedeutungsebene, denn mit ihrer abwechselnd dunklen und helleren Färbung benachbarter Segmente wirken sie teilweise wie Treppen. Auch die Schwerkraft scheint spürbar, wenn wir uns vorstellen, dass die zusammengefalteten Bahnen beim Loslassen und Aufhängen nach unten schwingen wie eine Ziehharmonika.
Diese kurzen Hinweise mögen für heute dazu genügen. Ich empfehle Ihnen das Gespräch mit der Künstlerin, die durchaus beredt und mitteilungsfreudig auf Ihre Fragen wartet.
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