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Rede zur Eröffnung des „Jazzsommers 2007“ – Konzert mit Jasper van’t Hof und Ulli Jünemann, in der Christuskirche Mainz, am 17. Juni 2007
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ein Grußwort, steht im Programm, und ich weiß eigentlich nicht, von vom ich Sie grüßen soll. Eine Einführung in die Musik des heutigen Abends werden Sie auch nicht erwarten, denn ich bin zwar Jazzliebhaber, aber alles andere als ein Fachmann. Unsere beiden Musiker hätten zudem Anspruch auf ein mehrtägiges Seminar, wollte man ihre Arbeit und ihren Ansatz wirklich im Detail würdigen.
Also nichts von alledem. Und schließlich wollen Sie Musik hören und keinen Vortrag.
Oder macht das vielleicht gar keinen so großen Unterschied? Fragen stellen! Musik als Verkündigung? Als Botschaft? Eine Mitteilung für uns? Nichtsprachliche Kommunikation? Die Emotionen ausdrückt? Welche? Und von wem? Erreichen sie mich? Kann ich sie verstehen, oder besser: nachempfinden? Was machen diese Klänge mit mir? Und woher kommen sie? Und wie sind sie gemacht? Erinnern sie mich an anderes Gehörtes, Gedachtes, Erfundenes, Gespürtes?
Musikkritik und –wissenschaft versuchen, auf genau diese und tausend andere Fragen Antworten zu geben, obwohl sie sich dann sprachlich so verstellen, als ginge es um eine intellektuelle Übung.
Aber was bedeuten Begriffe wie Improvisation, oder in heutiger Sprache: Cross Over, Fusion, Weltmusik?
Stellen wir uns eine Gruppe von Menschen vor, ein Dorf vielleicht, eine Gemeinschaft, eine Stamm, was auch immer, vor Tausenden von Jahren oder auch Tausende Kilometer entfernt. Sie arbeiten – nein, sie arbeiten nicht einmal, sie tun etwas, um zu überleben, und sie lieben, sie leiden, sie hassen, sie freuen sich, sie fürchten sich vor vielem, was sie nicht verstehen, sie machen sich ein Bild von der Welt – und auch von dem, was vielleicht hinter der Welt ist, oder davor oder danach oder darüber. Sie suchen nach Erklärungen.
Und diesen Wirrwarr von Gefühlen, Erfahrungen, Wissen, Glauben, Vermutungen, Empfindungen, Fragen müssen sie immer wieder bannen, indem sie das ausdrücken, sich einander versichern: Wenn sie miteinander sprechen, schaffen sie Gemeinsames, und das macht stark, zumindest stärker, oder zumindest hat man das Gefühl gemeinsamer Stärke, oder zumindest bin ich nicht allein.
Aber das, womit ich konfrontiert bin, ist so komplex, so vielfältig und so fremd, auch ich selbst bin mir manchmal fremd, dass die gesprochene Sprache nicht ausreicht, um es zu sagen. Also entstehen Bilder dafür, Klänge, Rhythmen, Lieder, Tänze. Alle möglichen Ausdrucksformen, die wir gemeinhin mit dem Begriff „Kultur“ bezeichnen.
Ich glaube, wir müssen davon ausgehen, dass die ursprünglichste musikalische Äußerung in allen Zeiten und allen Kulturen die Improvisation ist. Dann erst kommt die gebundene Form. Und der Weg geht vom einzelnen Sänger, Erzähler, Musiker, Rhythmiker zur Gruppe, die sich wiedererkennt in dem, der da anfängt, seine Gefühle zu äußern, und die dann einfällt in gemeinsame Rhythmen, Harmonien, Melodien, was auch immer. Dann kommt die Weitergabe an die nachfolgenden Generationen oder das nächste Dorf, die Überlieferung, das Festhalten, die Übersetzung in Notationen, die Vervielfältigung, die Wiederaufführbarkeit, die mechanische oder elektronische Tonaufnahme, die Konserve, der iPod – ich verkürze etwas.
Der Jazz scheint mir grundsätzlich in diese Urform der Musik zurückgehen zu wollen, etwas retten zu wollen von dem Ursprünglichen, vom Menschlichen, Direkten, Emotionalen, Unverstellten. Dass diese Tendenz in der Moderne auftaucht, etwa parallel zum Interesse der Expressionisten in der Kunst für sogenannte primitive Kulturen, scheint symptomatisch für unsere Befindlichkeit seit der Hochblüte der industriellen Revolution. Wenn man so will, könnte man eine weitere Parallele ziehen zwischen der Digitalisierung und dem Interesse für Weltmusik, besser: Musik – bisher – eher fremder Kulturen. Jasper van’t Hof bietet in seinem reichen Werk manche Beispiele dafür.
Es geht also beim Jazz und anderen Formen improvisierter Kultur nicht oder nicht ausschließlich darum, gebundene Formen zu durchbrechen, zu variieren und dadurch irgendwie interessanter zu machen, sozusagen Abwechslung zu schaffen. Das gibt es sicherlich auch. Aber zumindest der angestrebte Gedanke ist, das Idealziel, die völlige Loslösung vom Überlieferten und die Rückkehr zum individuellen, vorher nie gehörten und spontanen Klangerlebnis – für den Musiker wie für die Zuhörer.
Diese „reine Lehre der Ursprünglichkeit“ hat – wie alle fundamentalistischen Lehren – ihre logischen Tücken. Kann man auf einem Instrument wie der Orgel, dem ältesten vielstimmig bespielbaren Instrument überhaupt, „frei“ spielen? In seiner Stimmung, begrenzten Registrierung, überhaupt in seinem zwar reichen, aber doch in eine festgelegte Richtung orientierten Klangspektrum? Die physikalische Frequenzanalyse kann uns sehr exakt die Klangfarben jedes Instruments benennen. Und gleichzeitig damit aufzeigen, wie viele unzählbare Alternativen es gibt. Vielleicht ist das auch eine Motivation für Leute wie Herrn Robert Moog gewesen, mit dem Synthesizer ein Instrument zu schaffen, das – zumindest theoretisch – alles kann. Auch damit hat Jasper van’t Hof langjährige Erfahrung.
Wir kommen damit in ein, ich will es mal nennen: musikphilosophisches Dilemma, vergleichbar der Frage nach der „Abstraktion“ in der bildenden Kunst. Abstraktion wovon? Kann ich als in dieser Kultur aufgewachsener Künstler überhaupt noch eine freie, ganz eigene, ungebundene Ausdrucksform entwickeln?
Die Antwort muss „Nein“ sein, sosehr der einzelne Künstler sich auch bemüht, und so eigensinniger, fremdartiger und extremer die jeweiligen Ausdrucksformen auch sind. Die Kreativität liegt nicht im Erfinden – daran glauben nur Hobbykünstler – sondern im Verarbeiten von Erfahrungen. Und das setzt natürlich Neugier für Erfahrungen voraus. Insofern ist das Suchen nach globalen, d. h. weltoffenen Erfahrungen hier die kulturelle Antwort auf Globalisierung im Sinne von Gleichmacherei. Ein Element des Jazz ist immer schon der ständige Partnerwechsel gewesen. Aus dem globalen Miteinander entsteht Neues, Wertvolles, Menschliches, nie Gehörtes.
Das ist die Botschaft eines Jazz-Sommers in der Christuskirche, und wir alle sind heute Zeuge davon – wie damals, vor langer Zeit am Lagerfeuer.