Was tun die Kids im Museum?
Unveröffentlicht, geschrieben Oktober 2003
Dem Besucher des Landesmuseums Mainz in der letzten August- und ersten Septemberwoche des Jahres 2003 bot sich eine ungewöhnlich lebendige Szenerie. Nicht nur, dass mitten in den sonst stillen (häufig zu stillen) Schauräumen und verteilt in der ganzen Unübersichtlichkeit des ehrwürdigen Baus unablässig an etwas gearbeitet wurde, von vielen Menschen und nicht im Verborgenen („backstage“ oder „wegen Umbau derzeit geschlossen“), sondern ungeniert vor aller Augen. Nicht nur, dass es offensichtlich zwar auch, aber auch um mehr als „bildende Kunst“ ging: Man hörte Musikfragmente, sah Tänzer trainieren, konnte Schauspielproben beobachten. Nicht nur, dass diese arbeitenden Menschen aus aller Herren Länder zu stammen schienen.
Was selbst den mit musealen Multimedia-Events, internationalen Künstlersymposien und work-in-progress-Projekten Vertrauten vielleicht doch überraschte, war die selbstverständliche Präsenz einer Gruppe von Jugendlichen in einem großen temporären Atelierraum, intensiv mit der Herstellung von Bildern beschäftigt, an den Wänden, auf Papier, auf Leinwand, umgeben von allerlei Materialien, Getränkekisten und meistens auch „ihrer“ Musik. Was hatten die Kids im Museum zu suchen?
WIR bilden
Der Set in diesem Kontext hätte naheliegend als pädagogische Maßnahme verstanden werden können, schließlich waren in der Gruppe mehrere „Erwachsene“, die nicht mit Zeichnen und Malen sondern mit Reden beschäftigt waren, in diesen Tagen unübersehbar. Stichworte wie Malschule und Museumspädagogik kommen in den Sinn, das kennt man, das gehört seit Jahren zum Standardrepertoire, auch im Landesmuseum. Also doch business as usual?
Was das Phänomen allerdings von anderen didaktischen Begleitprogrammen abhob, erschloss sich im zweiten Blick: Die Werkstatt der Jugendlichen fungierte als eigenständiges Kunstprojekt, erfunden und vertreten von einem Maler, Stefan Budian, der damit einen von acht Beiträgen zum Ausstellungsteil der Aktion „Türme Babylons“ lieferte.
„WIR bilden“ heißt es im Titel, mit Betonung des WIR, selbstbewusste Behauptung und Programm gleichermaßen. Den Jugendlichen wird eine aktive Rolle anvertraut und zugetraut. Nicht Objekt der Bildungsbemühungen der Institution oder der erwachsenen Profis sollen sie sein, sondern handelndes Subjekt mit Kompetenz und Erfahrungen, die es wert sind, ernst genommen und anderen vermittelt zu werden. Dafür schafft ein Künstler eine Situation und nimmt sich und sein (bildnerisches) Werk in diesem Moment fast ganz zurück. Budian selbst stellte irgendwann fest, dass er den Beuys’schen Begriff der sozialen Plastik realisierte. Recht hat er.
Bildung durch Bilder
Den Bildungsbegriff im Museum zu diskutieren, ihn auf den Kopf und dadurch auf neue Füße zu stellen, das könnte ein spannendes Vorhaben sein. Die versuchsweise Umkehrung der Rollen – Schüler werden Lehrer, Lehrer werden Schüler – ist dabei nur ein Aspekt, zudem ein durchaus mit Argwohn zu beobachtender. Denn mit der reinen Absichtserklärung ist nichts gewonnen. Nach wie vor gibt es Betreuungsverhältnisse, welche die Rollen determinieren. Aber allein den Blickwinkel zu verschieben, schafft schon Platz für Erkenntnisfortschritt.
Wichtiger vielleicht scheint der Fokus auf das klassische Medium, mit dem das Museum sich äußert: das Bild. Der Maler ließ malen, aber richtig. Nicht nur Buntstift und Wasserfarben auf Hobby-Format, sondern große Leinwände auf Keilrahmen sollten es sein, gewichtig und unübersehbar. Auch das ein Ernstnehmen.
Soweit entfernt von Kunstdidaktik sind wir dabei übrigens nicht, z. B. vom Grundgedanken, über die eigene praktische Arbeit ein Verständnis der Arbeit anderer zu gewinnen, nämlich der Arbeit der Künstler. Ein Aspekt, der mehr und mehr aus bildungspolitischen Diskussionen verschwindet, nicht erst seit „Pisa“.
Die Teilnehmer der Aktion wurden also nicht nur als Akteure, als Vermittler und Sender eingeführt, sondern ihnen wurde als Sprache und Medium das Bildermachen ermöglicht, und zwar in einer Dimension, die ihnen im Alltag vermutlich verschlossen ist. Nicht nur sie selbst wurden ernst genommen, sondern ihnen wurde das Erlebnis ermöglicht, dass auch die eigenen Bilder ernst genommen werden können, ernst zu nehmen sind – und damit auch die Bilder anderer.
Bild oder Text
So einfach ist es dann aber doch nicht. Wir glaubten uns schon auf dem Königsweg zum Begriff des autonomen Kunstwerks – das ohne Text auskommt. So wie Neugeborene ansatzweise schwimmen können, was sie später wieder verlernen, so wäre es ein schönes Ideal, ein „angeborenes“ Kunstverständnis zu vermuten – das durch Elternhaus, Schule und Medienwelt nur verschüttet und verbildet wurde und auf die Wiedererweckung wartet.
Nein, die Faszination stolzer Eltern in Anbetracht der ersten Farbkritzeleien ihrer Kleinen teile ich nicht. Fantasie, schöne Farben und Geduld sind keine hinreichende Bedingung für Kunst. Kunst – das Machen sowie das Rezipieren – setzt Bildung voraus.
Der Weg dahin führt allerdings nicht ausschließlich über die Sprache – sondern etwa auch über Bilder, also sinnliche Erfahrung. Die Crux ist leider, dass man irgendwann auch über Bilder spricht, vielleicht sprechen muss, und dann wird das Korsett des populären, vormodernen Kunstverständnisses überdeutlich spürbar, vor allem bei Laienkünstlern wie in diesem Projekt.
Jeder der jungen Bildermacher verfällt nämlich unmittelbar einem enormen Interpretationsdruck, sobald er oder sie über das eigene Bild zu sprechen gebeten wird. Das war bei den Präsentationen während der Aktionstage zu beobachten und ist jederzeit zu reproduzieren. Die Frage nach Bedeutungen wird beantwortet, auch wenn sie nicht gestellt wurde. Die jungen Malerinnen und Maler begeben sich, indem sie diesem verbreiteten Kommunikationsmuster folgen, in die Klientenfalle: Sie erklären mit Worten, was sie im Bild ausdrücken wollten. Dieses wird damit zum reinen Transportmittel meist expressiver oder emotionaler, manchmal auch appellativer Information degradiert, wird wie ein projektives Verfahren der Diagnostik in den Dienst der eigenen Befindlichkeit gestellt und hört auf, Phänomen zu sein. Sinnlichkeit adé.
Dass diese Form der Annäherung an das eigene Bild möglicherweise auch von Betreuern induziert wird, kann vermutet werden, und dass sie bereits bei der Bildproduktion zum Tragen kommt, ist deutlich sichtbar.
Werk oder Werkstatt
Der Diskurs zum Werk in der geschilderten Form ist typisch für nichtkünstlerisches Bildermachen. Inwiefern an diesem Punkt für Stefan Budian als Bildungspartner der Jugendlichen die Chance bestand, andere Formen der Auseinandersetzung ums Bild zu provozieren, solche, die er z. B. selbst als Künstler in seinem Umfeld entwickelt hat, wäre zu fragen.
Klar ist jedoch, und obwohl auch in Ankündigungen des Projekts und begleitenden Texten immer wieder gesagt, sollte es wiederholt werden: Es ging bei „WIR bilden“ nicht um die Produktion von Kunstwerken und ebenso wenig um das Erlernen von Kunst, auch nicht um das Entdecken junger Talente. Das Werk, sofern der Begriff überhaupt anwendbar ist, mit dem Stefan Budian zur Teilnahme an der Kunstaktion „Türme Babylons“ eingeladen wurde, ist der Prozess selbst, der von ihm mit Hilfe anderer angeregt und begleitet wurde, als Workshop im Workshop.
Die Dimensionen dieser sozialen Plastik sind vielfältig und großenteils im landläufigen Sinne kunstfern: Das Erproben aller möglichen Formen der Gemeinsamkeit, wie Wohnen, Essen, Arbeiten, Reden. Das Heimischwerden in einem fremden Haus, dem Museum. Die Eroberung der weißen Leinwand ebenso wie das Suchen nach Worten für die Erlebnisse beim Malen. Es ging auch um die fremde Stadt, die Stadt überhaupt. Und natürlich um das Beobachten von und Teilhaben an der Arbeit anderer, der Profis.
Diese und viele weitere beschreibende Begriffe für das Kunstwerk „WIR bilden“ sind notwendig Tätigkeitswörter, d. h. sie bezeichnen Tätigkeiten und Prozesse. Der Prozesscharakter des Kunstwerks ist auch die Bedingung für das reziproke Lehrer-Schüler-Verhältnis. Fertige Werke entziehen sich zum guten Teil der Kommunikation, da nur noch über sie und nicht mehr mit ihnen gesprochen werden kann. An die Stelle des Werkbegriffs tritt also der Begriff der Werkstatt, der sowohl Arbeit (statt „Genießen“) als auch das Vorläufige, Fortschreitende meint.
Workshop im Workshop
Die Integration einer solchen Werkstatt in das internationale Künstlersymposium hat das Spektrum der Fragestellungen für beide Seiten noch erweitert. Für die Jugendlichen bot sich die Chance der täglichen Beobachtung von Kunst im Entstehen, nicht nur von bildender Kunst und vor allem von keineswegs traditionellen Ansätzen und Verfahren. Auch hier stand das sinnliche Erleben im Vordergrund vor der reinen Vermittlung durch Text und Medien.
Die Künstler wiederum waren dadurch nicht nur mit Kollegen aus anderen Kulturen und anderen Kunstsparten konfrontiert, sondern auch mit Vertretern einer anderen Generation. Was im Detail an Begegnungen innerhalb und zwischen den verschiedenen Gruppen in diesen Tagen stattgefunden hat und wie diese Erfahrungen von jedem einzelnen verarbeitet wurden, ist kaum zu überschauen.
Die in der Werkstatt entstandenen Bilder spiegeln das Moment der Begegnung unterschiedlicher Kulturen, Meinungen, Ideologien und Lebensentwürfe zum Teil deutlich wieder, wobei das ernsthafte Nachdenken über die Thematik denjenigen überraschen mag, der selten Kontakt zu Jugendlichen hat. Auf eine Kommentierung der einzelnen Arbeiten habe ich zugunsten genereller Überlegungen verzichtet.
Diese mögen theoretisch überladen klingen, und für die teilnehmenden jungen Leute war die Woche vielleicht nichts anderes als ein Abenteuerurlaub, eine „Freizeit“, frei von Elternhaus und Schule, ein kurzer und einmaliger Besuch auf einer unbekannten Insel. Mag sein. Auch gut.
Mittlerweile ist im Museum wieder Ruhe eingekehrt.
Übersicht