Carl Zuckmayer: Die Fastnachtsbeichte – eine Erzählung und ihre Verfilmung
Vortrag mit Filmausschnitten,
Plenarsaal des Landtags RLP, am 8. Oktober 1996
Ein stiller Moment
Mit einem Kuss beendete Ludwig Harig soeben seine Lesung, einem gewollt/ungewollten, einem verbotenen, einem Fastnachtskuss, der in Zuckmayers Text aber nicht eine unverbindliche Liebelei zwischen Herrschaft und Dienstmädchen einleitet - unverbindlich vor allem für die jungen und älteren Herren, versteht sich, sondern der Beginn ist für einen Ausweg aus Konvention, Schuld, Maskierung und Selbsttäuschung. Dieser Ausweg, diese Antwort auf die Frage nach dem "Positiven", ich sage es Ihnen gleich zu Beginn, fehlt im Film von William Dieterle. Jeanmarie und Bertel verlassen plötzlich und unerwartet das Geschehen, dieser Kuss bleibt im Film nichts weiter als ein Irrtum. Ich werde Ihnen später den entsprechenden Ausschnitt zeigen.
Zunächst aber springen wir zurück an den Fastnachtssamstag des Jahres 1913, ganz an den Anfang der Erzählung. Ich möchte versuchen, Ihnen mit einer Minute, mit einem Bild in dieser Minute, mit einer kleinen Geste, zu zeigen, wie Filmbilder ohne Dialog und sprachliche Erklärung, aber mithilfe von Kameraperspektiven, Blicken, Gesten und vor allem deren Montage eine komplexe Situation aufbauen können. Wir befinden uns im Gut der Panezzas, die Fastnachtsgesellschaft um das Prinzenpaar ist eben eingetroffen, man begibt sich ans reichhaltige Büffet, und traditionsgemäß marschiert das Prinzenpaar als letztes ein. Davor aber gibt es einen stillen Moment. Und ich möchte, dass Sie mal auf das Dienstmädchen Bertel achten, das mit den Mänteln die Treppe hinaufläuft und oben einen Augenblick innehält, um diesen Moment zu beobachten. Bitte Licht aus und Film ab.
Sie haben noch kurz den Schnitt auf den toten Ferdinand gesehen, der den Handlungsstrang vom Anfang, durch den Mord vor dem Dom ausgelöst, fortsetzt. Zu dieser Montage auf globalerem Niveau komme ich später. Zunächst zur Szene mit dem Kuss. Die Sequenz dauert genau 65 Sekunden, und sie eröffnet darin eine der Problemsituationen, in denen sich der alte Panezza - und mit ihm natürlich die junge Katharina - befindet. Das Verbotene, Verborgene dieser Beziehung wird klar, die Heimlichkeit hinter der verschlossenen Tür, die das Paar von einer lauten, ausgelassenen und ahnungslosen Gesellschaft trennt. Das gleichzeitige Empfinden von Glück und Verzweiflung, das Rollenspiel, in das beide sich einlassen müssen.
Drinnen und draußen, Stille und Lärm, Ruhe und Bewegung, wortlose intime Gesten und rituelles öffentliches Verhalten dienen hier als filmische Metaphern für den Konflikt, die psychische Dissonanz, in der sich die Personen sehen.
Im Text wie im Film schauen wir auf dieses Paar aus der Perspektive von Bertel, dem Dienstmädchen. Sie ist nicht ins Geschehen involviert, bleibt auch bis zum Ende der Geschichte, bis zum anfangs erwähnten Kuss, unbeteiligt, ist nur ab und zu Beobachterin. Wie reagiert sie? Der Text sagt, ich zitiere: "Bertel biss sich droben vor Aufregung die Lippen wund." Vor der Kamera tut sie etwas anderes: Sie zieht die Schultern hoch, und wir spüren in dieser Bewegung nicht nur die Aufregung, etwas Heimliches beobachtet zu haben, sondern die Gänsehaut und den erotischen Schauer der Erregung beim romantischem Mitfühlen der Liebe dieses Paares.
Soweit nur ein Schlaglicht auf die Bildsprache und damit auf die Aufgabe, der sich ein Filmregisseur gegenüber sieht, wenn er einen literarischen Text umsetzen will.
William Dieterle
Zunächst möchte ich Ihnen eine Kurze Charakterisierung des Filmvorhabens geben.
Die Erzählung erschien 1959, bereits von Zuckmayer mit der Absicht versehen, einen Filmstoff zu liefern, was - ich zitiere einen Brief Zuckmayers nach dem Marbacher Katalog - "ja ökonomisch ganz angenehm wäre". Für Zuckmayer war es doch immerhin die 31ste Filmarbeit seit 1926. Und später möchte ich zeigen, wie mehr oder weniger filmisch auch in diesem Text gearbeitet wird.
Wenige Monate nach dem Erscheinen des Buches, nämlich im Februar 1960, begann William Dieterle auch schon mit den Dreharbeiten.
Wer war William Dieterle?
Wilhelm Dieterle wurde 1893, also drei Jahre vor Zuckmayer, in Ludwigshafen geboren, seine Eltern stammten aus dem Badischen bzw. Württembergischen. Sein Vater arbeitete in der Industrie, in einer heute zu BASF gehörenden Isolierfabrik. Wilhelm wurde evangelisch erzogen. Nach der siebenklassigen Schule absolvierte er eine Lehre als Schreiner und Glaser und ging dann auf Wanderschaft. Nebenbei, leistete er sich dramatischen Unterricht - schon als Kind hatte er Schauspieler werden wollen - und erhielt tatsächlich 1911, als 18jähriger, sein erstes Engagement, an einer "Wanderschmiere" im westfälischen Arnsberg. Als Stationen folgen Heilbronn und Plauen im Vogtland, und für 1914/15 erhält er einen Vertrag am Stadttheater Mainz, wo er Ludwig Berger begegnet, einem lebenslangen Freund Carl Zuckmayers, der hier 1915/16 Oberspielleiter und Dramaturg ist.
In Mainz entdeckt ihn ein Agent des Zürcher Theaters, und im Herbst 1916 wird Dieterle für Zürich freigestellt, wo er bis zum Sommer 1918 spielen wird, vor allem in anspruchsvollen Gegenwartsstücken. Wahrscheinlich aufgrund einer Vermittlung durch Ludwig Berger geht es daraufhin an die Berliner Volksbühne. Der drohenden Einziehung zum Wehrdienst in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs kommt die Revolution zuvor. Das Ensemble probt Schillers Wilhelm Tell, während am 9. November 1918 der Massenstreik der Arbeiter beginnt, dem sich Soldaten anschließen. Der Kaiser dankt ab, die Theater spielen weiter, Dieterle tritt auf Versammlungen als Rezitator glühender Revolutionstexte auf. 1919 wird er als Heldendarsteller ans fortschrittliche Münchner Schauspielhaus gerufen, wo ihn ein Jahr später Max Reinhardt entdeckt, der ihn mit der Rolle des Brutus in Julius Cäsar wieder nach Berlin lockt. Dieterle ist erfolgreich und steht in diesen Berliner Jahren mit großen Schauspielern wie Werner Krauss, Emil Jannings, Paul Wegener, Lil Dagover und vielen anderen auf der Bühne. Er heiratet 1921 seine Kollegin Charlotte Hagenbruch. Die Ehe wird 50 Jahre währen.
Schon seit 1913 hatte er auch an Filmen mitgewirkt, jetzt steht er mit Henny Porten vor der Kamera, unter anderem in E. A. Duponts GEIERWALLY und Carl Mayers DIE HINTERTREPPE. Er ist Asta Nielsens Partner in der Strindberg-Verfilmung FRÄULEIN JULIE. Er arbeitet in der Folge u.a. mit den Regisseuren Karl Grune, Richard Oswald, Friedrich Wilhelm Murnau und Paul Leni. Allein 1923 tritt er in fünf Filmen auf, aber versucht sich auch erstmals als Filmregisseur. DER MENSCH AM WEGE, so der Titel, zu dem Dieterle auch das Drehbuch verfasst, ist eine sozialkritische und christlich-mystische Legende, basierend auf zwei Erzählungen von Tolstoj. Zu den Mitwirkenden gehörten Marlene Dietrich, Alexander Granach und Heinrich George.
1924 gründet Wilhelm Dieterle ein eigenes Schauspielensemble: das "Dramatische Theater. Gesellschafter sind unter anderem der Architekt Hans Poelzig und der Maler Max Pechstein. Trotz einiger Erfolge musste das Unternehmen Ende des Jahres mit einem enormen Schuldenberg wieder schließen. 1925 spielt Dieterle in neun Filmen mit, darunter in Murnaus Faust-Film und in QUALEN DER NACHT von Kurt Bernhardt. Und hier setzt sich der 1915 in Mainz begonnene Bogen fort, der Dieterle und Zuckmayer verbindet: QUALEN DER NACHT war die erste Arbeit des Autors für das Kino: Zuckmayer war Mitverfasser des Drehbuchs. Und wenn Sie mir den Vorgriff gestatten: DIE FASTNACHTSBEICHTE war die letzte Kinoverfilmung eines Werkes von Zuckmayer, und sie war der vorletzte Kinofilm des Regisseurs Dieterle.
Aber zurück in die Weimarer Republik. Dieterle gründet 1927 ein zweites Mal eine Firma, dieses Mal eine Filmproduktionsgesellschaft. Das Jahr 1928 bringt zwei große Kassenerfolge: DIE HEILIGE UND IHR NARR, die Verfilmung eines Trivialromans, sowie GESCHLECHT IN FESSELN, ein Spielfilm über ein Tabu-Thema: das Sexualleben von Gefängnisinsassen. Dieterle war Regisseur und Hauptdarsteller in beiden Filmen. In Jahr darauf gründet die amerikanische Filmgesellschaft Universal eine deutsche Filiale und nimmt Dieterle als Schauspieler und Regisseur unter Exklusivvertrag. Der letzte von ihm gedrehte Stummfilm ist LUDWIG II. KÖNIG VON BAYERN. 1930 dreht er seinen ersten Tonfilm, den für lange Zeit letzten Film in Deutschland, denn er erhält ein Angebot von Warner Brothers in Hollywood. Es beginnt die amerikanische Karriere von Wilhelm, jetzt William Dieterle, die von 1930 bis 1956 aus über 50 Spielfilmen besteht, von denen nur einige genannt seien: Romantische, märchenartige Filme wie A MIDSUMMER NIGHT'S DREAM in der Co-Regie mit Max Reinhardt, 1934; dann vor allem eine ganze Serie biographischer Filme, z.B. LOUIS PASTEUR, 1935, und THE LIFE OF EMILE ZOLA, der 1938 den Oscar für den besten Film errang; zu den berühmtesten Arbeiten gehört sicher DER GLÖCKNER VON NOTRE DAME mit Charles Laughton, 1939, ein Film, der die Fähigkeit des Regisseurs zeigt, große Massenszenen ins Bild zu setzen; bekannt wurde auch KISMET, 1943 mit Marlene Dietrich.
Zuckmayer und Dieterle trafen sich 1939/40 in Hollywood wieder, als nämlich Zuckmayer kurz nach seiner Ankunft in den USA eine kurze Zeit in Hollywood verbrachte, bereits einen Autorenvertrag mit wöchentlichem Scheck in der Tasche hatte, aber nach drei Wochen schon verkündete: "Hier bleibe ich nicht lange. Das ist kein Leben für mich." Dieterle blieb, solange er konnte.
William Dieterle hatte schon in der Zeit vor 1930 in Deutschland politisch fortschrittliche Positionen bezogen. Er setzte dies in den USA fort, gemeinsam mit den späteren deutschen Emigranten in Hollywood, sagte sich von Nazi-Deutschland los und verhalf zahllosen Verfolgten zur Ausreise aus Deutschland und Einreise in die USA. Dieterle wirkte auch an Anti-Nazi-Propagandafilmen mit. Diese Aktivitäten führten bei ihm wie bei vielen prominenten Emigranten zur scheinbar paradoxen Situation, dass er zur Zielfigur reaktionärer amerikanischer Politiker auf der Jagd nach "unamerikanischen Aktivitäten" wurde. Diese Verhöre hatten bereits in den 40er Jahren begonnen, Jahre vor der sogenannten McCarthy-Ära in den Fünfzigern.
Mehrere Reisen führten Dieterle direkt nach dem Kriege nach Europa, wo er für sich und die amerikanische Filmwirtschaft Arbeitsfelder und Märkte begutachten sollte, ohne dass er große Möglichkeiten entdeckte. Mit Anna Magnani in der Hauptrolle dreht er 1949 die italienische Produktion VULCANO. 1954/55 entsteht ein Film über Richard Wagner mit dem Titel MAGIC FIRE, der einerseits ein großer Misserfolg wurde und andererseits Konflikte wegen starker nicht autorisierter Kürzungen durch die Verleihfirmen auslöste.
Die politischen Verhältnisse in den USA und ein nicht mehr ausreichendes Einkommen bewogen dann Dieterle, 1956, nach 26 Jahren in den USA mit seiner Frau wieder nach Deutschland umzusiedeln. Er inszeniert wieder Theater, vor allem bei den Festspielen Bad Hersfeld, deren Intendant er später für einige Jahre wird. Ein großangelegter Abenteuerfilm, HERRIN DER WELT, bei Arthur Brauners CCC, wird zum eklatanten Misserfolg. Es heißt, William Dieterle sei wegen Verdienstausfalls gezwungen gewesen, die Regie zur Fastnachtsbeichte zu übernehmen. Dieterle hat danach keine rechte Lust mehr am riskanten Filmgeschäft und macht nur noch Theater sowie eine Reihe von Fernsehinszenierungen, unter anderem noch einmal den SOMMERNACHTSTRAUM, sowie MACBETH, ANTIGONE und Stücke von Hauptmann, Dürrenmatt u.a. Seine letzten Jahre verbringt er, bis zum letzten Tage auf der Bühne stehend, als Leiter eines Wandertheaters. William Dieterle starb im Dezember 1972, im Alter von 79 Jahren.
„The making of...“
Zurück zur FASTNACHTSBEICHTE. Die Ufa produzierte den Film, gedreht wurde in den Tempelhofer Ateliers, nur die Außenaufnahmen machte man in Mainz. Uraufführung war hier am 15. September.
Als Filmset dienten unter anderem der Liebfrauenplatz mit den Domtüren, der Winkel zwischen Haus zum Deutschen Kaiser und Rotekopfgasse, die Theodor-Heuss-Brücke, das Schloss, und - als Kappelhof eingeführt - der Platz zwischen Kirschgarten und Augustinerstraße. Immer wieder ist auch die Mainzer Silhouette - noch ohne Hilton, die Rheingoldhalle und das Rathaus - zu sehen, von Kastel aus, d.h. der anderen Rheinseite, wo irgendwo das Gut Panezza in Nieder-Keddrich liegen soll.
Die Innenaufnahmen, bis auf die Ballszene, wurden im Studio gedreht, d.h. dass auch die Weinstube "Rote Kopp", wo Clemens und Ferdinand Bäumler sich treffen, nicht der Originalschauplatz ist.
Für Massenszenen, die eine zeittypische Kostümierung erforderten und außerdem Auftritte der Hauptdarsteller enthielten, wurden einige hundert Statisten engagiert, die der Mainzer Carnevals Verein stellte. Außerdem benutzte man zahlreiche dokumentarische Aufnahmen, vor allem in der Sequenz mit dem Rosenmontagszug. Dieterle schaffte es, diese drei verschiedenartigen Bildquellen recht harmonisch und bruchlos miteinander zu verweben.
Ein weiterer Brief Zuckmayers enthält die Information, dass er zur Vorbereitung des Projekts nach Berlin gereist war und - durchaus im Sinne von Dieterle - bei der Ufa einige Änderungen in der Besetzung und im Drehbuch erreichen konnte. Zunächst zur Besetzung: Ein Treffer sicherlich Hans Söhnker als Panezza, Patriarch und angesehener Ehrenmann mit verborgener, aber durchaus spürbarer Leidenschaft, einem Überdruss an seiner Rolle und schwer an einer alten Schuld tragend. Ich denke, man mag trotz rollendem R und eher bayerisch/österreichischem Typus so manchen aktiven Mainzer Fastnachter mit grauen Schläfen in ihm wiedererkennen.
Berta Drews als Therese Bäumler mit unschätzbarem Alter, wechselnd lichten und düsteren Momenten und schillernd zwischen Opferbewusstsein und unheimlicher Bösartigkeit ist faszinierend.
Friedrich Domin gibt einen weisen, strengen doch allem Menschlichen aufgeschlossenen Domkapitular Dr. Henrici ab. Und Hilde Hildebrand als Frau Guttier ist einfach amüsant.
Gegen diese alte Garde haben es die jungen Schauspieler immer schwer. Der einzige, der es wirklich schafft, eine psychische Präsenz im Film zu entwickeln, ist der junge Götz George in der Rolle des naiven, ehrlichen Clemens Bäumler. Auf Grit Böttcher, die das Dienstmädchen Bertel spielt, bin ich schon eingegangen. Die anderen, vielleicht bis auf Christian Wolff als Jeanmarie, sind heute vergessen, und sie spielen in diesem Film - böse gesagt – „fehlerfrei“.
Handlungsstrukturen
Zum Drehbuch und zur Handlungsstruktur: Im Vergleich zu vielen anderen Zuckmayer-Verfilmungen ist die Umsetzung des Textes sehr linear und direkt. Der Schinderhannes beispielsweise war in der Käutner-Filmfassung kaum wiederzuerkennen, ebenso der fröhliche Weinberg im Erich-Engel-Film von 1952 oder der Herr über Leben und Tod von Victor Vicas 1954.
Ohne eine minutiöse Filmanalyse vorzustellen möchte ich die wichtigsten Veränderungen gegenüber dem Buch nennen:
Abgesehen von Kleinigkeiten der verbindenden Erzählung und Auslassungen von Dialogteilen fallen einige Textabschnitte auf, die im Film keine Entsprechung haben, dass sie "fehlen", möchte ich nicht formulieren. Da sind zunächst die Erklärungen der Fastnachtsbräuche, der Masken usw. bei Zuckmayer, sozusagen das volkskundliche Element. Der Film begnügt sich mit dem einfachen Abbilden, wie gesagt großenteils dokumentarisch. Weiterhin entfallen, ich denke ebenso zwangsläufig, ausführliche Schilderungen landschaftlicher Gegebenheiten, vor allem die ständigen Fahrten zwischen dem Rheingau und Mainz, sei es mit dem Schiff oder dem Automobil. Wenn im Film ansatzweise gefahren wird, ist es übrigens die Kutsche und nicht das Mietauto wie im Text. Man kann spekulieren, ob die Kutschen das Zeitkolorit von 1913 in Mainz besser treffen, d.h. Zuckmayer den alten Panezza zu fortschrittlich gezeichnet hat oder ob Dieterle die ganze Geschichte weiter ins Märchen, ins Historische, ja eigentlich ins 19. Jahrhundert zurückversetzen wollte.
Langwierige Ortswechsel sind im Film vereinfacht: Es ist leicht, zu schreiben, dass Viola und Jeanmarie sich aus dem Fastnachtstrubel in ein Café zurückzogen, um dann dort gerade zwei Sätze Dialog zu sprechen. Für eine Filmproduktion bedeutet eine weitere Dekoration einen enormen Aufwand, und so begnügt man sich mit einem stilleren Stück Straße, um diese Sätze unterzubringen.
Auch der behäbige Anfang der langen Vernehmung mit der Vorstellung und Schilderung aller Personen einschließlich der Art und Weise ihres Eintreffens wird übersprungen, nach der telefonischen Verabredung Panezzas mit dem Kriminalrat wird direkt in die Verhandlung hineingesprungen und das Gesicht von Berta Drews erscheint als erste Befragte groß auf der Leinwand.
Diese Veränderungen, möchte ich sagen, denen übrigens zwei sehr kurze und ebenso wenig bedeutende wie störende zusätzlich eingefügte Szenen gegenüberstehen, sind geringfügig und - ich möchte einmal sagen - produktionsbedingt.
Ein kurzer Auftritt Ernst Negers auf der Prunksitzung mag ein Zugeständnis ans Schunkelbedürfnis des Publikums sein, aber sein Text ist nicht ohne, wenn man an die innere Problematik der Figuren denkt: "Ja sowas des gibts nur in Meenz, denn an Fassenacht, do wird mitgemacht. Und ausschließe tut sich do keens, s’is ja Fassenacht heit in Meenz."
„Unpassende“ Figuren
Interessanter ist schon das Weglassen einer Nebenfigur: Der Offizialverteidiger des Clemens Bäumler, Dr. Levisohn, fehlt und in der Folge auch die einen unverhohlenen Antisemitismus spüren lassenden Sticheleien des Staatsanwalts.
Vor dem Hintergrund anderer Zuckmayer-Verfilmungen der Nachkriegszeit muss man hier schon von einer Tendenz sprechen: Beispiel eins: der Trödler, der dem Schuster Wilhelm Voigt im HAUPTMANN VON KÖPENICK die Uniform verkauft, ist im Bühnenoriginal Jude. Ich zitiere Zuckmayers Regieanweisung: "Kracauer, sagenhafte Ghettogestalt". In der Käutner-Verfilmung mit Heinz Rühmann wird daraus ein Böhme oder Sudetendeutscher. Beispiel zwei: Die Weinreisenden im FRÖHLICHEN WEINBERG, Hahnesand und Löbchebär, werden in der Verfilmung von Erich Engel 1952 zu "neutralen Schweizern", jeder Antisemitismus wird gestrichen. Nun ist es nicht etwa ein Antisemitismus Zuckmayers, den es zu verbergen gilt, sondern im echten Sinne des Wortes wird ein von Zuckmayer abgebildeter Antisemitismus und jede Anspielung der Thematik verdrängt, mit Sicherheit, um irgendwie gearteten Problemen aus dem Weg zu gehen, denn Probleme kosten Zuschauer - so zumindest die Devise der westdeutschen Kinoproduktion der fünfziger Jahre. Dr. Levisohn also taucht nicht auf.
Eine zweite, gravierende Veränderung: Zuckmayer schildert die Figur des Lolfo auf dem Totenbett: "Es war eine kleine Gestalt, klein, breit und massig, nicht höher als ein normalgewachsener Knabe zwischen zwölf und vierzehn, doch mit kräftigen Gliedmaßen, von denen besonders die Länge und die mächtige Muskulatur der Arme auffiel. Brustkorb und Leib waren auch jetzt noch mit weißen Tüchern bedeckt, aber Arme und Beine waren unbekleidet, und zeigten dichte Behaarung, die sich bis auf die Handrücken ausdehnte. Die Hände waren derb und schwielig, mit kurzen spitzen Fingern, sie erweckten den Eindruck von pfotenhaften Gebilden..." usw. außerdem ist von großen Eckzähnen die Rede.
Was Zuckmayer hier schildert, und dieses Bild wird mehrfach bestärkt, ist ein Affenmensch oder ein Hundemensch. Diese Figur ist im Film sehr zurückgenommen. Nicht nur, dass die Figur auf dem Totenbett nicht gezeigt wird, auch als Lolfo in der Erzählung Violas mehrfach auf ihn zu sprechen kommt - ihr Bericht wird in Form einer Rückblende illustriert - , ist er praktisch nicht zu erkennen, sondern nur hinter Gebüsch oder den Lamellen einer Jalousie zu sehen. Was man sieht, sind gerade nur buschige Augenbrauen, zu wenig selbst, um Ihnen einen Ausschnitt vorzuführen.
Was ist der Grund? Nun, ich denke, wir verlassen mit dieser Figur das Genre. Ein leibhaftiger Tiermensch gehört nicht ins Gesellschaftsdrama und den "Psychokrimi", sondern die filmischen Bereiche Horror und Fantasy, wie es heute heißt.
Hätten wir eine derartige Figur im Film, wäre sie optisch so prägnant, dass nicht mehr die persönliche, teils tragische Schuld der handelnden Personen im Mittelpunkt stünde, sondern man hätte plötzlich einen "Mr. Hyde", einen verrückten Mörder, der mit seiner Entdeckung die ganze Thematik verschieben und einen leichten und schnellen Ausstieg aus den Problemen ermöglichen würde.
D.h. im Verzicht auf die größere Kraft des Bildes, das einer direkten Umsetzung des Textes entsprechen würde, ist die dramatische Balance oder auch das labile psychologische Kräfteverhältnis innerhalb des Textes, das von Zuckmayer angestrebt wurde, gewahrt.
Textzeit und Filmzeit
Wie sieht nun die Verteilung des Textmenge und der Filmzeit auf die Elemente der Geschichte aus?
Alle informationstheoretischen oder meinetwegen auch gestaltpsychologischen Überlegungen in bezug auf den Informationsgehalt von Texten im Vergleich zu Filmsequenzen hintangestellt, lassen sich schon durch eine einfache Rechnung sinnvolle Hypothesen entwickeln. Ich habe die prozentuale Verteilung der Textmenge auf die einzelnen Handlungssequenzen berechnet und ihr die prozentuale Verteilung der Filmzeit auf diese Sequenzen gegenübergestellt. Man könnte jetzt herrliche Diagramme an die Leinwand werfen, das überlasse ich der universitären exakten Filmwissenschaft.
Nur zwei Beobachtungen, die auffallen: Das Buch enthält drei lange dialogische Sequenzen, die im Grunde den gesamten komplizierten Ablauf der Geschichte und vor allem deren lange zurückliegenden Hintergrund erklären: die erste Verhandlung mit fast allen Beteiligten vor dem Staatsanwalt, die immerhin ein Viertel der Textmenge ausmacht; weiterhin das vertrauliche Gespräch zwischen Panezza und Dr. Henrici; und schließlich die Vernehmung Violas mit der ihrer anschließenden Fastnachtsbeichte. Wenn man diese drei Abschnitte zweimal gelesen hat (ich denke, zweimal müsste ausreichen), hat man die Geschichte verstanden. Alles andere ist im Grunde Beiwerk, Atmosphäre, Stimmung, Ablenkung, Spannungsmoment - sofern man die Fastnachtsbeichte wirklich auf ihre Kriminalstory reduzieren will. Eine vorsichtige These: Der Film tendiert zu dieser Reduktion. Dass es ihm nicht gelungen ist, die Story glasklar zu übermitteln, merkt man heute wie vor 36 Jahren an der Zuschauerreaktion. Es wird berichtet - auch dies ist in Zitaten des Marbacher Katalogs nachzulesen - dass viele Besucher den Handlungsablauf eigentlich nicht richtig verstanden haben. Und ähnliche Beobachtungen konnte ich nach den beiden Vorführungen des Films die letzten Tage selbst machen: „Ei, wie war des jetzt? Wars die Viola?“
Ich denke, dieses Problem ist nicht dem Film anzulasten. Die Geschichte ist nun einmal sehr verwoben und kompliziert. Die erwähnten Dialogsequenzen - und darauf wollte ich hinaus - sind, mengenmäßig betrachtet, fast eins zu eins in den Film übertragen worden. Einzig die eingeflochtene längere Erzählung des Clemens Bäumler von seinem Treffen mit Ferdinand im "Rote Kopp" wird aus der mehrseitigen indirekten Rede in eine Rückblende übersetzt, ebenso Violas Bericht von ihrer Begegnung mit Ferdinand, dem falschen Jeanmarie in Sizilien.
Bevor ich noch einige Gedanken über die meiner Ansicht nach gravierendste Veränderung im Film gegenüber dem Text anstelle, ist ein weiterer, diesmal längerer Filmausschnitt angebracht. Wir befinden uns in der zweiten Hälfte der Geschichte, Clemens Bäumler ist als unschuldig aus der Haft entlassen und kehrt nach Nieder-Keddrich zurück, wo er seine Mutter in der Kapelle vor dem aufgebahrten Ferdinand antrifft. Ungefähr gleichzeitig beginnt der Maskenball am Fastnachtsdienstag. Bitte Licht aus und Film ab.
Mit diesem letzten Ausruf enden die Filmfiguren Jeanmarie und Bertel, ihr Schicksal bleibt im Gegensatz zum hoffnungsgeladenen Text im Dunkeln, schlimmer noch, es gibt im Film keine Zukunft für die beiden, es bleibt bei einem Fastnachtskuss. Es ist der zweite zwischen Bertel und Jeanmarie, aber beide waren "maskiert", d.h. nicht echt. Im Buch folgt dem ersten Kuss unter der Maske immerhin ein zweiter, bereits nach der Demaskierung.
Nun, dieser Ausblick auf das Leben nach der Fastnacht, nach der Maskenzeit, nach dem Verhüllen und Verbergen, ist ja schon der zweite. Ich denke, der entscheidendere, aber der erste, naiv, schuldlos aber nicht unschuldig, ehrlich auf jeden Fall, dieser Blick nach draußen, den schenkt uns der Film wie das Buch: Ich meine die Verbindung Clemens-Rosa, wie eben gesehen. Rosa wirft ihre halbseidene Existenz ab, ein durchaus romantisches, wenn nicht machistisches Idealbild. Aber schön, ich gebe es zu. Der Text ist da übrigens, ein weiteres Mal, erotischer.
Der Gestalttherapeut würde dieses Verhalten der beiden als "aus dem Feld gehen" bezeichnen, das Feld der Spannungen verlassen, dadurch sich neue Perspektiven aneignen, aber nicht durch Flucht, sondern durch Anerkennen der eigenen Geschichte.
Zuckmayer führt uns im Buch dieses Verhalten eben zweimal vor, in einer Parallele Clemens/Rosa und Jeanmarie/Bertel. Der Film verzichtet auf das zweite Paar, vermutlich aus praktisch-ökonomischen Erwägungen.
Der Effekt ist jedenfalls, dass nur noch eine endgültige Aufklärung des Falles folgt, nämlich die Aussage und Erzählung Violas. Ihre Beichte schließlich, die Fastnachtsbeichte, entlässt den Zuschauer.
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