Geschichten hinter den Bildern
Edward Hoppers Gemälde als Anlass und Ausgangspunkt für Kurzfilme
Vortrag auf dem Mannheimer Filmsymposium, am 4. Oktober 1997
1) Zum ersten Film:
"Meine Bildergeschichte:Ulrich Wickert und Edward Hopper,
Nighthawks" (Heinrich Breloer, 1994)
Film gehört zu den kurzen Kunsthäppchen, die sich das Fernsehen ab und zu noch als letzte verbliebene Form der Kunstdokumentation geleistet hat.
Bekannt sind die ebenfalls zehnminütigen "1000 Meisterwerke", aber das Vorbild dieser Serie "Bildergeschichten" war eine Serie des NDR, die einfach "Bilder" hieß und in den achtziger Jahren produziert wurde. Prinzip ist, dass eine mehr oder weniger bekannte oder kompetente Persönlichkeit einfach über ein Bild ihrer Wahl und Vorliebe spricht. In diesem Fall ist es Uli Wickert, der seine Erlebnisse mit Nighthawks schildert. Andere Folgen zeigten u.a. Elke Heidenreich, Matthias Beltz und Eugen Drewermann.
Der Film gehört eigentlich nicht direkt zu meinem Thema, aber zeigt doch eine Haltung, die den Bildern Hoppers häufig entgegengebracht wird und zu solchen Filmen verleiten kann, um die es heute Vormittag geht. Schauen wir mal!
2)
Wie sagte Ulrich Wickert: "Es wird ein Vorhang weggezogen, es erscheint einen Augenblick eine Szene, es ist fast ein Szenenfoto, und dann wird der Vorhang wieder zugezogen. Das ist das Schöne an den Bildern, Sie können sich nämlich die Geschichte selber ausdenken."
Breloer spielt dann auf die "aktuellen Bilder" an und fragt nach dem Unterschied zwischen dem "Sichtbaren" und dem "Wahren". Er schneidet damit ein - für Fernsehzwecke - sehr komplexes Problem an, das in der Tat gerade in der Literatur über Edward Hopper immer wieder diskutiert wird, aber die einzige Antwort, die kommt, ist, dass "die aktuellen Bilder die Welt nicht erklären können."
Damit ist eigentlich eine Grundfrage angesprochen, die uns heute durchgehend beschäftigen wird: Das Verhältnis der Gemälde zu den aus ihnen hervorgegangenen Filmen und ihren Geschichten unter dem Aspekt der gegenseitigen Erklärung oder des Erklärungsbedarfs.
Erklärt ein Gemälde Hoppers die Welt - und ist in diesem Sinne "wahrer" als die anekdotischen tagesaktuellen Bilder?
Oder ist es vielmehr so, dass erst ein Film, der die "dahinter liegende" Geschichte zeigt, das Bild erklärt und verstehbar macht, und verstehbar auf welchem Niveau?
Wir kommen mehrfach auf diese Fragen zurück, festzustellen ist zunächst, dass es eine auffällige Häufung von Filmen gibt, die Hoppers Bilder quasi als Stills oder Storyboards betrachten und eine davor, danach oder dahinterliegende Geschichte zu erzählen versuchen. Von Hoppers Bildern scheint mehr als bei anderen Malern geradezu eine Provokation auszugehen, sie weiterzuerzählen. Ein Anreiz, dem schwer zu entgehen ist.
Das zeigt sich schon in der Literatur, in der Kunsthistoriker immer wieder zu Erzählern werden, wenn sie Hoppers Bilder analysieren. So, nur als Beispiel von vielen, etwa Eva Schmidt über Nighthawks: "Die beiden Männer tragen Hüte, der Barkeeper hat eine weiße Schiffchenmütze auf dem Kopf. Die Gäste trinken Kaffee - soweit das Sichtbare - und jetzt: Sie haben nicht den ganzen Abend in der Bar verbracht. Der Mann und die Frau waren vorher vielleicht auf einer Veranstaltung, dann in einem Speiselokal. Der andere Mann im Kino, in einem Nachtclub. Vielleicht ist er aber auch nur stundenlang in einem Zimmer gesessen. Der Barkeeper hat seinen Dienst früh am Abend begonnen. Bald wir er ihn beenden. Die Gäste werden aufbrechen." usw.
Nur logisch, dass ein Dokumentarfilmer wie Wolfgang Hastert in seiner "Straße der Nachtvögel" ebenfalls und erst recht diese Methode benutzt, um - ja wozu eigentlich? Schauen wir noch einmal in eine Sequenz aus seinem gestern gezeigten Film.
"Straße der Nachtvögel" (Wolfgang Hastert, 1994)
3)
Der Regisseur erzählt hier eigentlich keine Geschichten, oder nur ganz kleine, Miniaturen, ansonsten sind die nachempfundenen Szenen seines Films nicht mehr als lebende Bilder, tableaux vivants, mit mehr oder weniger dicht am Vorbild orientiertem Set Design. Er versucht dazu in den Kommentaren eine psychologische Zustandsbeschreibung und baut auf die einfache körperliche Präsenz und das - einigermaßen extrem ausgesuchte - Minenspiel seiner Figuren - damit aber schon in völligem Gegensatz zur Figurendarstellung bei Hopper selbst, der alle seine Personen und ihre Gesichter kaum porträtiert, geschweige denn am individuellen psychologisch motivierten Ausdruck interessiert ist.
Was hier also offenbar provoziert, ist: überspitzt formuliert, die Gesichtslosigkeit der Hopperschen Figuren. Die Gesichter müssen quasi nachgezeichnet werden, um eine plausible psychische Befindlichkeit zu schildern.
Über die Beziehungen zur schwarzen Serie usw. ist hier schon viel gesprochen worden. Ob man einzelne von Hoppers Figuren überhaupt heute noch schildern kann, ohne derartige Klischees zu benutzen, ist fraglich. Auch in die Kunstgeschichte sind sie natürlich eingewandert. Wieland Schmied beschreibt NIGHTHAWKS: "Das Paar an der Theke hat sich wenig zu sagen. Der Mann mit dem Raubvogelgesicht - der 'Nachtfalke' könnte ein rechter Galgenvogel sein, wie er in die amerikanischen Kriminalfilme der 'Schwarzen Serie' passt, aus der uns vor allem der wortkarge Humphrey Bogart in Erinnerung geblieben ist, der ja auch mit einem seltsamen Vogel, Hammets 'Malteser Falken' zu tun hatte - dieser Mann, den Hut stilecht tief in die Stirn gezogen, hält eine Zigarette in der rechten Hand..." usw.
Warum eigentlich „stilecht“?
Dagegen schreibt Liesbrock: "Es wäre eine Verkürzung, das Bild aufgehen zu lassen im Rahmen einer Geschichte der amerikanischen Populärkultur in den dreißiger und vierziger Jahren. In NIGHTHAWKS sitzen nicht Philipp Marlowe und Humphrey Bogart an einem Tisch, sondern der Mensch in einer Befindlichkeit, die ihn schon seit langem und noch immer bestimmt."
Ich zeige Ihnen jetzt den Film ROSEMARY, 30 Minuten, von Dan Halperin, er war der Pilotfilm zu einer Serie THE PAINTED WORD für einen TV-Kanal. Ob die Serie weiter fortgesetzt wurde, weiß ich nicht.
Der Film geht von NIGHTHAWKS aus, verfolgt aber nicht das Schicksal der Gäste an der Bar, sondern erzählt uns die Geschichte des Barkeepers. Und wir sehen keineswegs eine schwarze Gangstergeschichte, sondern ein regelrechtes Melodram, in dem so manche filmtechnischen Register gezogen werden.
"Rosemary" (Dan Halperin, 1992)
4)
Auf den ersten Blick wird nur ein einziges Bild Hoppers zitiert, es dient als Skizze für das zentrale Set Design, auf das der Film immer wieder zurückkommt, das aber auch letztlich zerstört, sozusagen dekonstruiert wird. Das Einzige, was Nick, der Barmann, erreicht hat, die Bar, die auch sein Zuhause geworden ist, seit Jahren, hält nicht mehr, hält ihn nicht mehr, und hält auch nicht mehr die Gefühle im Zaum. Es bricht geradezu alles zusammen, bzw. es bricht - in Form der durchgängig sich steigernden Wasser-Metapher - aus allem heraus. Der Regen, anfangs nur erwähnt oder leise hörbar - "I love the rain, it's so clean, it makes me feel fresh", sagt Rosemary, das kitschige Traumbild der Frau im Wasser, das nachgeschüttete Kaffeewasser, der Wolkenbruch, die Überschwemmung, der Fluss, aber auch die einsame Träne in Rosemarys Gesicht, die Pfützen und schließlich die Flutwelle.
Im Werk Hoppers gibt es eine Reihe von Beispielen für eine ähnliche Bedeutung des Wassers, meist des Meeres, z.B. in dem wunderbaren Bild ROOMS BY THE SEA von 1951, in dem nur eine fragile Türschwelle den Innenraum und unseren sicheren Standpunkt von dem unendlich weiten, unendlich gefährlichen Meer trennt. Man sprach von einem optischen Abgrund. Weiterhin sei auf die Brückenbilder von Hopper hingewiesen.
All dies aber ist nur eine indirekte, geistesverwandte Beziehung zu Hoppers Bilderwelt. Seine Gemälde werden nicht als Steinbruch benutzt, sondern ihr Gehalt, ihr Ausdruck liefert einen gedanklichen Hintergrund für die Filmgeschichte. Man könnte sogar soweit gehen, dass in der Filmfigur des Barkeepers ein Mann wie Hopper selbst porträtiert wird, introvertiert, zurückgezogen, vielleicht sogar einsam. Ein Mann, der lange Zeit auf Gefühle verzichten musste und sie höchst indirekt ausdrückt. Gail Levins Biografie schildert das sehr deutlich.
Noch eine weiteres kleines Detail. Häufig und zu Recht wird bei NIGHTHAWKS von der Beinahe-Berührung der Hände des Mannes und der Frau gesprochen, die nebeneinander an der Bar sitzen, und von der darin liegenden erotischen Spannung bzw. dem sich andeutenden Scheitern einer echten Begegnung zwischen beiden. Im eben gesehenen Film entspricht eine Geste der Berührung diesem Bild, nämlich die kurze, gleich wieder zurückgenommene Berührung der Hände im Wartesaal.
Wenn man in Licht, Kadrierung und Kameraperspektive nach Hopper-Elementen im Film suchen will, findet man - denke ich - wenig Spezifisches, lediglich der Blick auf den Eingang der Union Pacific Station von schräg oben wäre typisch Hopper. Aber es geht mir nicht um filmwissenschaftliche Fleißarbeiten.
Ich benutzte eben den Begriff der Provokation, die offenbar für Filmemacher - und nicht nur für die - von den Bildern Hoppers ausgeht. Ich nannte bereits die Gesichter.
Was hier nun weiterhin als provozierendes Bildelement auffällt, ist die offenkundige Bewegungslosigkeit der Personen. Es wird von Stillestehen und Innehalten in der Bewegung gesprochen, von Starrheit, gar Leblosigkeit, aber auch von Dauer, Ruhe, Unwandelbarkeit und Einheit. Das zielt auf die kontemplative Sicht der Dinge, die man Hoppers Bildwelt generell zuschreiben kann. Sie steht im Gegensatz zum Prinzip des Handelns, welches das Menschenbild der Zivilisation seit der industriellen Revolution kennzeichnet.
Und damit zurück zum Film. Unter all den Figuren seiner Bilder, die in Zimmern stehen, lesen, aus dem Fenster in die Weite blicken, warten oder sinnieren, ist der Barmann aus NIGHTHAWKS eine der wenigen, die mitten in einer Bewegung wirklich eingefroren sind. Er ist bei der Arbeit, hat sich beim Abwaschen oder was immer gerade gebückt, blickt auf und wird sich gleich wieder aufrichten. Er befindet sich im Bild in einer für Hopper ungewöhnlich instabilen Position. Und genau diese hat offenbar den Filmemacher gereizt, nicht die Gäste, die jetzt, unter dem Eindruck des Films, wie Randfiguren eine Kulisse bilden.
Der nächste Film geht von einer eher typischen Hopper-Figur aus, einer ruhig in einem sonnigen Hauseingang stehenden jungen Frau. Es ist das Bild SUMMERTIME von 1943, was dem Film auch den Titel gab. Man weiß nicht, wie lange die Frau dort stand oder noch stehen wird, sie scheint wie manche anderen die Sonne zu genießen, wartet vielleicht auf jemanden oder hält kurz inne, bevor sie aus dem Haus auf die Straße geht. Den Film SUMMERTIME, 1943 haben wir im letzten Jahr im Wettbewerb des Festivals Mannheim-Heidelberg gezeigt.
"Summertime, 1943" (Peter Skuts, 1996)
5)
Der Film geht wie ROSEMARY von einem zentralen Themabild aus, aus dem er aber diesmal recht direkt, abrupt und im Vergleich etwas ungeschickt auf das nachahmende Filmbild springt. - In ROSEMARY wurde dieser Sprung durch einen vorbeifahrenden Zug geradezu maskiert, falls Sie sich erinnern.
18 Gemälde werden in diesem Film benutzt, um die Geschichte der jungen Frau zu erfinden und zu erzählen, in zwei rasanten Montagen, in denen sie nur flüchtig, zum Teil sogar nur in Details zu sehen sind. Hoppers Bilder erscheinen so in einem extremen Maß als Zeichen für Narratives, eigentlich wie in einem Fotoroman. Die im Licht stehenden Akte tauchen hier sogar als Reihung auf, um die lange Reihe der Frauen im Leben des untreuen Geliebten zu symbolisieren.
Sie sind verbunden durch wenige Filmsequenzen in einem nachgeahmten Amateurstil, wobei die letzte Sequenz, die uns zeigt, was die Frau eigentlich auf der anderen Straßenseite sieht bzw. sehen könnte oder sich vorstellt, also die Hochzeitsgesellschaft, vorgefundenes echtes Amateurmaterial ist.
Einige Details der Story kennen wir schon: Wie in Rosemary ist die Rede von einer jungen Frau, die aus der Provinz in die große Stadt kommt und dort enttäuscht wird, wie in der Anfangseinstellung von "Straße der Nachtvögel" gibt es einen Abschiedsbrief, wie dort werden auch hier Kummer und Sorgen im Whisky ertränkt. Und es wird dieses Vokabular von Klischees auch bewusst durch zitierte Phrasen in Text und Zwischentitel angesprochen: "Flat feet and a bad heart", "The postman rang twice" und "The sunny side of the street".
Die weitere Provokation liegt in den Blicken der Figuren. Keiner der dargestellten Menschen - nur eine Ausnahme ist mir bekannt - sieht den Betrachter des Bildes an. Viele der Hopperschen Figuren blicken in eine undefinierte Weite, sehen etwas, das wir Betrachter nicht sehen können, und teilweise - der Film SUMMERTIME hat es zum Ende deutlichst konkretisiert, scheinen die Menschen die Augen geschlossen zu haben oder blicken eher in sich hinein als auf etwas draußen Befindliches. Unsere Filme aber wollen wissen: Was sehen die Menschen, was haben sie gesehen, was werden sie noch sehen.
Zugespitzt und zusammengefasst ergibt sich ein merkwürdiges Paradoxon:
Indem die hier gezeigten Filme Hoppers Bilder - wie immer gesagt wird - als Stills auffassen und sich von einer ganzen Reihe der Hopperschen Bildelemente provozieren lassen und sie zu überwinden versuchen, führen sie gerade die stilistischen Merkmale des Malers ad absurdum, die ihn am meisten auszeichnen:
- die bewegungslose, wartende Ruhe der dargestellten
Menschen
- die Anonymität und Starrheit ihrer Gesichter
- das sich nicht Begegnen der Menschen
- das Blicken ins Nichts oder in die Unendlichkeit
- die kontemplative Betrachtung der Welt
- und damit das Übergeschichtliche, Allgemeingültige,
Existentielle seiner Inhalte.
Edward Hopper hat lange an jedem seiner Bilder gearbeitet, teilweise entstanden nicht mehr als zwei Gemälde pro Jahr. Mit vielen Vorstudien hat er die Kompositionen ausprobiert, und es scheint, dass es ihm dabei vor allem darum ging, das Anekdotische, die Bindung an Geschichten und damit auch das Angebot vorschnellen Erklärens aus den Bildern hinauszuarbeiten. Er hat z.B. nachweislich ursprünglich geplante Figuren aus Bildern entfernt.
Indem die Filme nun etwas nacherzählen, verraten sie eigentlich die Intention des Malers, und sie ziehen sein Werk auf ein Niveau des Narrativen, das ihnen selbst vielleicht nicht bekommt. Denn - und das zu untersuchen wäre jetzt der nächste Schritt, den ich allerdings heute nicht mehr gehen werde - ihre ästhetische Qualität liegt zu einem guten Teil auch jenseits von Hopper. Ebenso wenig wie man die Bilder Hoppers mit den Filmen erklären kann, lassen sich die Filme ausschließlich auf seine Bilder zurückführen.
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