Der erweiterte Kunstbegriff als Drehbuch
Joseph Beuys im audio-visuellen Kontext seiner Zeit
Zeitschrift „Vernissage“, Nr. 16/2000
Über Joseph Beuys existieren Film- und Videoaufnahmen in einem Umfang wie über keinen anderen bildenden Künstler vor ihm. Für Kamerateams gab die Person Beuys immer etwas her, nicht nur wegen der äußeren Erscheinung, sondern auch wegen ihrer enormen Eloquenz und einer ständig wachen Mitteilungsbereitschaft. Aber auch innerhalb des Werkes wird das Filmmedium mehrfach in verschiedenen Zusammenhängen und mit jeweils spezieller Funktion sichtbar. Aufzeichnungen von Aktionen wurden gemeinsam mit anderen Relikten als Multiples verbreitet („Transsibirische Bahn“, „Eurasienstab“) oder bildeten konstituierende Elemente neuer Aktionen (z.B. in „Celtic +~~~ „). Konkrete Verweise auf Film und Fernsehen tauchen in zahlreichen Installationen und Objekten auf („Das Kapital“, „Filz TV“, „Das Schweigen“, „Enterprise“.)
Im Falle Beuys sind Film und Fernsehen also nicht nur unverzichtbare Informationsquellen, sondern die Medien werden in seinen Arbeiten selbst thematisiert, treten teilweise sogar als selbständige Werke in Erscheinung. Der Film ist dennoch nicht als weitere Kunstform den vielen Sparten hinzuzuzählen, in denen der Künstler sich ausdrückte. Das Multitalent Beuys war kein Filmemacher. Hier unterscheidet er sich von den Kollegen, die Ende der sechziger Jahre bis etwa zur Mitte der siebziger Jahre den Film als zusätzliches Ausdrucksmittel entdeckten. Der Einzug des Films in das Areal der bildenden Kunst, in Deutschland vorbereitet durch die klassische Avantgarde der Weimarer Republik (Hans Richter, Moholy Nagy, das Bauhaus usw.), erhielt um 1970 neue Impulse vor dem Hintergrund von Kinetik, Aktionskunst, politisch funktionalisierter Kunst und anderen Tendenzen, das statische Tafelbild zu überwinden und das Museum als einzigen Ort der Kunstrezeption zu verlassen.
Der Kontext
Nur wenige Hinweise zur Szene dieser Jahre: Die Zero-Künstler Heinz Mack und Otto Piene kommen von ihren Licht- und Bewegungs-Skulpturen fast zwangsläufig zu filmischen Versuchen. Hans Haacke und KP Brehmer, auf dem Weg von konzeptioneller Kunst zu politisch relevanten Aussagen, drehen Filme. Der Maler Karl Horst Hödicke, später Lehrer einiger „Junger Wilder“, experimentiert in Berlin mit kurzen, absurd-konzeptionellen Filmstücken. Peter Roehr setzt seine seriellen Arbeiten im Filmmedium fort. Die Performance-Künstlerin Rebecca Horn beginnt ihre „Filmkarriere“, die sie bis heute zu großen Kinospielfilmen geführt hat. Viele weitere Namen aus dieser Generation wären zu nennen, nicht zuletzt Klaus Rinke, Sigmar Polke, Reiner Ruthenbeck oder Katharina Sieverding, ja sogar von Gerhard Richter liegt ein Kurzfilm von 1966 vor. Spätere Generationen, etwa die Berliner „Jungen Wilden“, (Fetting, Middendorf, Salomé) setzten diese Tradition der Künstlerfilme fort. Gleichzeitig entsteht die Videokunst und wird schnell zur international diskutierten neuen Kunstform. Auch sie wurzelt zum Teil in Fluxus und Aktionskunst (Wolf Vostell, Nam June Paik).
Zurück zu Joseph Beuys. Vor dem gerade skizzierten Hintergrund verhielt sich der Erfinder des „erweiterten Kunstbegriffs“ filmisch erstaunlich abstinent. Keines der aus dieser Zeit stammenden Filmdokumente über den Künstler geht auf seine eigene Initiative zurück, aber, soweit bekannt, hat er sich auch nie gegen eine entsprechende Aufzeichnung einer Aktion gewehrt. Einige der eben genannten Kollegen traten als Kameraleute auf, z.B. Hödicke und Brehmer. Auch mit eigentlichen Filmemachern, vor allem aus dem Bereich Avantgarde- und Experimentalfilm, arbeitete er zusammen: Lutz Mommartz, Werner Nekes und Ole John-Paulsen wären hier zu nennen.
„Eurasienstab“
Die Entstehungsgeschichte des Films „Eurasienstab“ (1968), berichtet von seinem Freund, dem Fluxus-Komponisten Henning Christiansen, wirft ein Licht auf die Art und Weise des Umgangs mit dem Film, wie er von Beuys zu jener Zeit gepflegt wurde. Am Abend vor der Aufführung der gleichnamigen Aktion in Antwerpen entstand die Idee, sie filmisch zu dokumentieren. Ein Kameramann war schnell gefunden (Paul de Fru), und am nächsten Tag gab es nach der Aktion vor Publikum eine Wiederholung nur für die Filmkamera. Christiansen bestimmte als Regisseur den Bildausschnitt, die Schwenks und die Perspektive. Als Beuys den entwickelten, noch ungeschnittenen Streifen sah, soll es ausgerufen haben: „Der Film ist ein Beuys!“ Fortan wurde „Eurasienstab“ als „Film von Beuys“ betrachtet. Später entstand auf der Grundlage des 16mm-Films eine Video-Edition, und der Künstler selbst ließ den Film 1971 während seiner über fünfstündigen Aktion „Celtic +~~~“ in den Zivilschutzräumen Basel mit anderen Streifen zusammen projizieren.
Es muss an dieser Stelle erwähnt werden, daß auch das öffentliche Fernsehen in der BRD zu dieser Zeit in bestimmten Grenzen ein Forum für ungewöhnliche künstlerische Film-Aktivitäten abgab. „Eurasienstab“ wurde nämlich noch 1968 in der spröden Originalversion vom WDR ausgestrahlt. Schon 1964 hatte das ZDF in seinem Vorabend-Magazin „Drehscheibe“ die Aktion „Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet“ live übertragen. Und zwei außerordentlich einfühlsame aber ebenso kompromisslose Reportagen von Hans Emmerling wurden 1971 vom Saarländischen Rundfunk produziert und gesendet: „Celtic“ und „Joseph Beuys und seine Klasse“. Als wichtigstes Beispiel der damaligen Experimentierfreude westdeutscher Fernsehsender gelten nach wie vor die beiden Ausgaben der „Fernsehgalerie“, erfunden und produziert von Gerry Schum, gesendet vom SFB 1969 und dem Südwestfunk 1971. Im zweiten Film findet sich auch die speziell für die Filmkamera unter der Regie von Gerry Schum durchgeführte Aktion „Filz TV“ von Beuys.
Erst 1977, zur Eröffnung der documenta 6, gab es noch einmal die Chance für Joseph Beuys, das Massenmedium Fernsehen frei und direkt zu benutzen. Nam June Paik, inzwischen weltweit bekannter Videoartist, schlug eine internationale Satellitensendung vor, in der drei Künstler (Paik, Beuys und Douglas Davis) live in drei verschiedenen Kontinenten vor der Kamera agieren sollten. Beuys benutzte seine Sendezeit von etwa 10 Minuten dazu, vor der unbewegten Kamera ein Statement über seinen Begriff der „sozialen Plastik“ abzugeben.
Monumente statt Medien
Auch dieser Moment der audiovisuellen Präsenz des Künstlers ist also nicht zu einem Film- oder Video-„Kunstwerk“ im üblichen Sinn geworden, sondern die Aufnahme reiht sich ein in die zahllosen Dokumentationen öffentlicher Auftritte des Lehrers, Politikers und Theoretikers Beuys. Ihn interessierte, wie er selbst sagte, „das Medium weniger für Aktionen, sondern für die Stimulierung der Diskussion“. Satellitenfernsehen sah er als möglichst weltweit offenes Kommunikationsmittel für die Fragen der Menschheit: „Ich bin an der Verbreitung von Ideen interessiert.“
Wie kaum ein anderes künstlerisches Oeuvre enthält die Arbeit von Beuys schon in der Intention einen Verkündigungsanspruch. Es ging ihm um geistige und gesellschaftliche Wirkung. Nicht nur stellte er sich der Auseinandersetzung mit dem Publikum, er forderte sie regelmäßig heraus, wollte sein Publikum verändern und voranbringen. Ebenso wichtig wie die Arbeit in den klassischen künstlerischen Medien Zeichnung, Malerei, Bildhauerei sind also die öffentlichen Auftritte als Redner oder in Diskussionen. Diese sind aber nicht etwa wie bei anderen Künstlern Erläuterungen zum eigenen Werk oder einfach allgemeine Äußerungen als mündiger Staatsbürger, sondern sie haben einen eigenen künstlerischen Ausdruckswert, sind selbst Kunstwerke im Sinne des erweiterten Kunstbegriffs, der bekanntlich sämtliche Aktivitäten des Menschen als teil des sozialen Organismus umfasst.
Energieträger Film
Film und Video können ohne Zweifel zu der Verbreitung eines künstlerischen Anliegens beitragen. Sie sind vervielfältigte Medien, die selbst Ideen vervielfältigen können. Immer aber gibt es bei Beuys als Grundlage des Films einen individuellen künstlerischen Akt: eine Aktion, eine Rede, eine Installation. Er schuf Monumente, keine Medien. Als Vehikel der genannten Vermittlungsabsicht sind die Multiples anzusehen, auch die genannten Editionen mit Film- oder Videokopien sowie weiteren Aktionsrelikten. Filmaufnahmen vergangener Aktivitäten von Beuys erreichen ihre Bestimmung aber nicht, wenn sie in ungeöffneten, etikettierten Dosen, gut verwahrt und bewacht, in den Vitrinen der Museen und Sammler liegen. Beuys sah sie als überall verteilte Antennen, die mit ihm (und seinen Ideen) in Verbindung bleiben. Es ging ihm also um mehr als nur den Versuch, die Kunst aus der Isolierung und aus dem Getto der Institutionen herauszuholen und sie zu vergesellschaften. Wirkung war für Beuys kein Begriff aus der Soziologie oder Kommunikationsforschung, Wirkung war für Beuys ein geisteswissenschaftlicher Begriff. Es ging ihm darum, Kräfte zu erwecken und in geistige Energien zu verwandeln.
Wenn diese Energien wirksam werden, entsteht ein Dialog. Filme schaffen damit eine Beteiligung an dem von Beuys intendierten geistig-künstlerischen Prozess. Oder, noch weitergehend: Während und mit der Filmvorführung findet auch heute noch, Jahre nach seinem Tod, künstlerische Praxis statt. Filmaufzeichnungen aus der Arbeit von Joseph Beuys haben also dieselbe Funktion und Bedeutung wie seine Zeichnungen, seine Objekte, seine Multiples, seine Installationen und Performances. Alles dient dazu, gedankliche Prozesse auszulösen, und diese gedanklichen Prozesse bei uns, die wir den Werken begegnen, gehören nach Beuys ebenso zur künstlerischen Arbeit und zum Werk wie das, was der Künstler selbst macht.
Man könnte sogar sagen, daß durch den Film ursprüngliche Energien wieder freigesetzt werden. Die Intuition und die Imagination der Zuschauer werden so zu einem Teil der Aktion. Die Aktionen von Beuys finden in unseren Köpfen noch einmal statt. Die Filme aus dem Werkzusammenhang von Joseph Beuys entwickeln ihre Energie, wenn sie uns erreichen - gebündelt durch Kamera, Projektor und Monitor. Sie sind selbst Ideenträger, Energieträger, Sender, Antennen, Speicher, gedankliche Leiteinrichtung, Akkumulatoren geistigen Kapitals. Es ist überflüssig, hinzuzufügen, daß nach diesem künstlerischen Konzept der Zugang des Publikums zu allen Werken des Künstlers, auch zu den Film- und Videodokumenten, unbeschränkt möglich sein muss, auch wenn seine Erben – gestützt auf Teile des deutschen Urheberrechts – versuchen, ein Informationsmonopol aufrechtzuerhalten.
Das Loch
1959 konzipierte Joseph Beuys ein Environment, das nur durch ein Loch in der Wand zu betrachten sein sollte, von einem einzigen Standpunkt, einem Blickwinkel aus. Die Installation mit dem Titel „Transsibirische Bahn“ wurde zwei Jahre später realisiert, allerdings nicht in dieser ursprünglich geplanten Form. (Sie ist heute Teil des „Block Beuys“ im Hessischen Landesmuseum Darmstadt). Erst ein Film mit gleichem Titel imaginiert das beabsichtigte Guckkastenprinzip. Die Kamera nimmt die ideale Position des Betrachters ein und rührt sich 22 Minuten lang nicht von der Stelle. Das Objektiv vertritt das Loch.
Beuys hat viele Löcher gezeichnet, aus Papier gerissen, hat Ofenlöcher in Museumsbauten brechen lassen, hat die Schläuche seiner „Honigpumpe“ auf der documenta 1977 durch Löcher in den Wänden zum „Arbeitsplatz“, nämlich der von ihm gegründeten Free International University geführt. Das Loch bündelt, fokussiert, bestimmt die Sicht. Das Loch ist eine Öffnung zwischen den Welten. Durch ein Loch ist der Zugang von einer Ebene zur anderen möglich. Durch das Loch kann plastische, gestaltende Energie fließen, auch gedankliche. Eine Lochzeichnung von 1961 trägt den Titel „Kamera“.
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