Von Mutanten, Mutationen und dem Warten
Aus: Günter Minas (Hrsg.): „Johannes Metten -
Mutationen“,
Ausstellungskatalog, Mainz, 2000, o. S.
Baumblüte
Johannes Metten scheint es seinen Interpreten leicht zu machen, liefert er doch ebenso bestimmend wie sparsam seit den siebziger Jahren mit den Titeln "Mutanten" und "Mutationen" die leitmotivischen Begriffe für seine Arbeit selbst, deren Belege man offenbar nur noch aufzufinden braucht. Mit dieser Wortwahl spricht er Dimensionen an, die einerseits vielschichtiger als erwartet sind und andererseits auch weit über die bekannten Bronzeplastiken des Künstlers hinaus vor- und zurückweisen, zu erfahren in der Beschäftigung mit den Werkgruppen aus fünf Jahrzehnten, die in diesem retrospektiven Querschnitt versammelt sind.
Selten ausgestellt und nie genauer untersucht wurden drei Serien von Papierarbeiten aus den Jahren 1956 bis 1961. Die Temperablätter "Baumblüte" entstanden in der Münchner Studentenbude, nicht in der Akademie und auch nicht vor Ort, in der Nieder-Olmer Heimat. Für den jungen Kunststudenten inmitten des "leuchtenden München" ein Zurückträumen in die rheinhessische Kulturlandschaft aus Äckern, Weinbergen, Obstbäumen, ein malerisches Landschaftsempfinden par excellence, duftend, luftig, in heller Manier.
Die hohe, oft ganz außerhalb des Bildfeldes liegende Horizontlinie provoziert die Abkehr von der klassischen Zentralperspektive, sodass aus der Staffelung des Hintereinander ein Neben- und Übereinander der landschaftsbildenden Elemente wird, eine Gleichwertigkeit nah- und fernliegender Bäume, verschiedenfarbiger Ackerflächen, Lichtpunkte und Orientierungslinien. Hintergrundfarben treten intensiver hervor als die weiß stehen gelassenen Blütenmeere der Baumkronen.
Diese Übersetzung des Gesehenen in vielgestaltige Farbflächen erweckt auf der emotionalen Seite Gefühle frühlingshaften Rausches, zumindest heiterer Gelassenheit, ist bildanalytisch aber der Königsschritt zur Abstraktion, tausendmal getan auf der Suche nach der Realität des Bildes - und fort vom Bild der Realität. Es ist immer derselbe geistige, erkenntnisphilosophische Schritt, ob in Rheinhessen, vor der Sainte Victoire oder in Murnau, und erstaunlicherweise legt manchen Malern die Landschaft diesen Weg nahe, anderen das Bild des Menschen. Johannes Metten jedenfalls, der auf seinen Reisen als junger Mann ständig den Skizzenblock füllt, ist hier ein Landschaftsmensch, obwohl er, wie Ludwig Hellriegel berichtet, einmal gesagt haben soll: "Den Mensch darstellen, danach suche ich". Ein Verbindendes, darauf wird man in seinen Bronzen zurückkommen, ist sein Ausdruck "Körperlandschaften".
Die farbig getupften Flächen entwickeln Eigenleben, Formen setzen sich strahlen- oder fächerhaft fort, spielerisch ufern Pinselstriche in Erfundenem aus, überfluten das Blatt, verselbständigen sich, geben sich Strukturen hin. Zeichenwelten entwickeln sich schon in den Baumkronen, fern jeder Abbildungsabsicht, statt dessen ein Universum aus Hieroglyphen, deren Entzifferung mit ihrer Schöpfung niemals Schritt halten wird.
Kurze Zeit später ist Johannes Metten wirklich auf Reisen: Brüssel und seine Weltausstellung 1958 ist das Ziel, das mit dem "Atomium" ein - heute gesehen - zweigesichtiges Zeichen setzte, nichtsdestotrotz nach wie vor durch Lebensart entzückt. Selten für den Zeichner: Es entstehen Porträtskizzen. Am Abend in den Kneipen und Restaurants, beim Kartenspiel, beim Trinken, füllt er seinen Block. Im Hotel wird ausgearbeitet, weitergestrichelt. Fragile Gestalten entstehen im Kugelschreiber-Gekritzel, mit karikaturhafter Treffsicherheit werden Erinnerungsbilder des Gegenüber beschworen, der Strich bedeutet alles, Modulation in Licht und Schatten brauchen wir nicht, höchstens knotenhafte Verdichtungen, ein Blick, ein Strich, Physiognomien wie aus Schreibschrift gemeißelt.
Es sind dies - für die Öffentlichkeit - seltene Momente des Bildhauerlebens Johannes Metten. Immer wieder hat er in den jungen Jahren skizziert, nie aber als Vorstudie zu plastischen Arbeiten, und was auf Papier entstand, wurde fast nie ausgestellt. Von 1978 sind genial-einfache Strichzeichnungen seiner "Mutanten" bekannt, aber die entstanden eher auf Anregung, als das Thema "Bildhauerzeichnungen" in der Ausstellungswelt entdeckt wurde.
Farbenspiele und Mutanten
Die "Farbenspiele", Aquarelle von 1961, sind für den Künstler selbst das vorerst letzte Ausloten der flächigen Welt - und auch der farbigen Welt - direkt vor Beginn des Bronzeguss-Betriebs im neuen Heim. Jung verheiratet, umgeben von seiner lebhaften Frau Liesel, die plötzlich auch Musik von Radio und Plattenspieler in das elterliche Haus in Nieder-Olm mitbrachte, freut sich Johannes des Lebens und der Farben. Im Dialog mit dem Blatt, nicht mehr an gegenständlichen Fixpunkten orientiert, entstehen Phantasiestrukturen in eher herbstlichen Tönen, schillernd zwischen blaugrün und rotbraun, durchaus pflanzlich wuchernd, jetzt moduliert, aber selbständig und autonom in der Form. Nur noch ein kleiner Schritt zur Schaffung auch körperlicher, fassbarer Gebilde...
Ein Schritt allerdings, der, wenn auch vorbereitet durch handwerklich-solide Ausbildung, wie ein humanistischer Quantensprung erscheint. Jahrhunderte lang haben Menschen ihr eigenes Bild plastisch geformt, doch die Konstruktion neuer, nie da gewesener Gestalten ist nach wie vor ein persönliches und gesellschaftlich-künstlerisches Wagnis. Was Johannes Metten bei seiner Aneignung des Begriffs "Mutant" - nach Leslie Fiedler der "Begriff für jenes neue Menschenbild, das nicht mehr auf der Tradition weiterbaut, sondern mit neuem Bewusstsein unter Zuhilfenahme neuer technischer Möglichkeiten seine Zukunft angeht" - nicht ahnte, ist mittlerweile umgangssprachliches Allgemeingut geworden. Metten hat sich in ein Begriffsfeld hineinbegeben, das mittlerweile von Neo-Technologie beherrscht ist: Roboter sind weitaus konkretere Denkmodelle als in den sechziger Jahren, das Stadium ihrer Serienproduktion ist längst erreicht. Gentechnologie provoziert eine neue Angst vor "Mutanten", "Duplikanten" und "Klonen". Der selbstgeschneiderte Quasi-Mensch Dr. Frankenstein ist hundertfach zum Topos der Horror-Film-Szenerie geworden. "Aus" für Neuschöpfungen?
Eigenleben der Figuren
Wir haben vielleicht zu schnell gedacht - und die erwähnte handwerkliche Dimension vergessen. "Ein Drittel Erfindung - zwei Drittel Handwerk" - so schildert der Künstler heute seine jahrzehntelange Arbeit. "Tierphantasien" - ein Ausdruck von Wolfgang Venzmer wird gern zitiert - sind ein erster vermeintlicher Ruhepunkt auf dem Weg zum genannten Quantensprung: "Tiergebilde von skurriler Dämonie, in den Grenzbereichen zwischen Realität und Phantasie angesiedelte plastische Gebilde, die, obwohl mancherlei Assoziationen zur Natur geweckt werden, ganz eigenständig aus einer streng plastischen Form heraus existieren." Der "Raubvogel" von 1964 steht dafür, aber auch für den Dialog zwischen Künstler und Material. Und Hans A. Halbey erkennt 1970 das Pygmalion-Thema: "das selbsterfundene Geschöpf, wenn es gelungen ist, treibt mehr Leben aus sich heraus, als vorher zu ahnen war...."
Dieses Eigenleben der Figuren beginnt unter der Hand des Künstlers im Umgang mit dem Wachs, dem Ausgangsmaterial seiner Bronzen. Johannes Metten hat nie intellektuell planmäßig und analytisch nach "Problemlösungen" gesucht, war aber stets neugierig auf experimentell Gewachsenes. Bei der Gestaltung der weichen Wachsplatten hat er folglich auch kaum einmal Drittes abgeformt oder abgegossen, sondern immer Strukturen im Material selbst provoziert. Das Aufeinandertreffen heißen, flüssigen Wachses mit Wasser ist dabei bis heute ein zentraler magischer Moment. Ihm verdanken sich die teils feinnervigen, teils dramatisch-schrundigen Oberflächenstrukturen der Mutanten - ihre "Körperlandschaften" - ebenso wie die kreuzförmigen Wasserzeichen und andere Formen in den Wachsreliefs der letzten Jahre.
Dass bei dieser Vorgehensweise Zufallsentdeckungen entstehen, ist evident. Zufälle, besser: Eigengesetzlichkeiten im Material spielen eine aktive Rolle, aber sie müssen auch entdeckt werden, am Leben erhalten oder wieder verworfen werden in der sich ständig auf höheres Niveau weiterentwickelnden Arbeit mit dem Werkstoff. Insofern ist der biologische Begriff Mutation durchaus auch in engerem Sinne zu verstehen: "Mutation bezeichnet genetisch die Abänderung von Eigenschaften eines Lebewesens, die dann aber erblich sind und die Spielarten der Existenz ermöglichen. Mutation ist so auch ein Beitrag zum Überleben, und diese Spannung zwischen Verletztem, Abbrechendem und sich Vollendendem lässt etwas vom Geheimnis des Schöpferischen ahnen." (Hanna-Renate Laurien)
Johannes Mettens Wesen setzen ihre Existenz im nächsten handwerklichen Schritt fort, mutieren weiter. Zu Recht wurde immer wieder die Bedeutung des Selbstgießens für die Arbeit des Künstlers betont. Er gibt seine Geschöpfe nicht aus der Hand, sondern lässt sie in seiner Werkstatt weiterwachsen, wobei sie beim Austrocknen und Aushärten der negativen Gussform aus Schamotte, Ton und Gips zunächst schmelzen und verbrennen, verloren gehen und dennoch als Idee weiterleben. Ihre neue Stufe der Existenz erfahren sie dann im eigentlichen Bronzeguss, der wiederum mit geplanten Unwägbarkeiten, also weiteren Mutationen verbunden ist. Auch die Gussform muss zerstört werden, um die erkaltete Bronze freizulegen und damit des Geschöpfes drittes, nunmehr endgültiges Lebensalter zu eröffnen. Die Arbeit findet ihren Abschluss im Ziselieren, Abschleifen, Patinieren, also eigentlich nur mehr Oberflächengestaltung.
Die Entwicklung Johannes Mettens im plastischen Bereich ging von den Tierplastiken über die ersten Mutanten, die häufig als Zwitterwesen zwischen Menschlich-Organischem und Technisch-Konstruktiven gesehen wurden und noch den Eindruck erstarrter Bewegungen vermittelten, zu immer statischer und architektonischer auftretenden Stelen. Torsi, auch in der seltenen Kombination von Bronze und Holz, liegen dazwischen. Die "Mutationen", deren kastenförmiger Aufbau den Blick noch mehr als zuvor auf die Strukturen der Außenhaut konzentriert, stehen in ihrer schlichten Gestalt wie Ikonen, Totems oder Wegzeichen einer anderen Kultur vor uns. Ob diese andere Kultur eine zukünftige, eine vergangene oder womöglich eine außerirdische sein mag, ist der Phantasie des Betrachters überlassen.
Häufig werden die Mutanten und Torsi in Zweiergruppen vorgestellt, spontan zunächst als "Paar" wahrgenommen und damit auch als "Wesen" menschlichen Ursprungs, aber denkbar ist auch die Sichtweise als zwei Stadien in der Entwicklung nur eines Wesens, womit ein weiteres Mal Zeit und Verwandlung thematisiert sind. Wie ein Gespräch innerhalb einer eigenen Spezies wirken dann die Aufstellungen in "orchestrierten Ensembles" (Halbey) oder Kreisen.
Material Wachs
Wenn auch schon früher einmal eine Wachsform als "Wachs für Bronze" selbständig präsentiert wurde, tritt der tierische, warme, formbare Stoff von nahezu magischer Naturnähe (Joseph Beuys!) seit etwa 1992 nun ganz aus seinem Schattendasein als Verbrauchsmaterial heraus und emanzipiert sich zum endgültigen Werkstoff des Bildhauers. Die obeliskenhaften drei Türme von 1993/97 und auch das Mutantenpaar von 1994 wären noch als Bronzen vorstellbar und haben sich in ihrer äußeren Form und Oberfläche ganz vom Organischen weg zum Architektonischen entwickelt. Die Serie der Wabenbilder, wiederum nur als "Mutationen in Wachs" betitelt, treten uns dagegen als merkwürdige Kooperationen, sozusagen als Gemeinschaftswerk von Mensch und Bienenstaat entgegen. Sie arbeiten mit natürlich entstandenen Strukturen und verweisen als autonome Bilder wiederum auf Gestaltungsprinzipien, wie sie die Abstraktion früherer Jahrzehnte entwickelt hat.
In den Wachsreliefs von 1992, angeregt durch die Beschäftigung mit Elisabeth Langgässers Roman "Das unauslöschliche Siegel", lässt der Künstler aus dem erwähnten Zusammentreffen von Wasser und Wachs Kreuzformen entstehen, hier auch mit eingearbeiteter grober Jute unterstützt. In einem Spiel zwischen Sichtbarem und Verborgenem materialisiert sich das christliche Symbol durch die Spur des flüchtigen Wassers auf der ehemals heißen, lebendigen Wachshaut, es bildet sich ein "Wasserzeichen", wie die Ausstellung, zu der die Arbeiten entstanden, betitelt war.
Warten
In der bislang jüngsten Werkphase, deren Beginn mit dem gemeinsamen Parisaufenthalt des Ehepaares Metten im Jahre 1998 bezeichnet werden kann, reagierte Johannes Metten auf ein weiteres literarisches Monument: Samuel Beckett und sein "Warten", das "Warten auf Godot". Dabei geht es nicht um Illustration, sondern um Parallelität. Johannes Metten wartet erst einmal, und er beginnt im Atelier mit Wachsmalstiften, die er schon eine Weile besitzt, nie recht benutzt und jetzt einfach mal mit nach Paris genommen hat, zu zeichnen: erst kleine einfache Formen, eigentlich, um die Stifte auszuprobieren, und er merkt, dass sich auf dem Arbeitstisch, an dem er sitzt wie viele andere Künstler vor ihm, das Material, die Tischoberfläche mit ihren Spuren durchreibt, die Geschichte des Materials, ohne sehr aufwendiges Dazutun, eigentlich im Warten, einer künstlerischen Tugend, die Johannes Metten immer wieder zu Recht zugeschrieben wurde.
Und allmählich entsteht eine Chronologie des Wartens, und der Künstler entdeckt, dass da schon einmal einer gewartet hat, genau 50 Jahre vor ihm. 1948 schrieb Beckett sein Stück, in dem Jahr, in dem Johannes Metten sich aus Nieder-Olm verabschiedet hat, um in München Kunst zu studieren. Da scheint eine Parallelität, eine Beziehung auf, und Beckett wird das Thema von Johannes Metten in Paris.
Was in den Blättern, die alle "Warten auf Godot" heißen und nach Jahren eine Rückkehr zur farbigen Zeichnung darstellt, sich entwickelt, ist ein - ich möchte es einmal nennen: architektonisches Warten, ist ein Ruhen von Gewichten in drei, vier unterschiedlichen Konstellationen. Ein Quadrat oder zwei Rechtecke, auf denen schmale Streifen ruhen wie Balken, schließlich das farbige Quadrat ganz selbständig, in sich ruhend, monumental. Zwei waagerecht liegende Rechtecke, die eine schmale Form zwischen sich halten und zu pressen scheinen. Druck wird spürbar. Die schmalen Streifen werden beweglich, wellenförmig, brechen aus der Statik aus oder werden wiederum in sie eingezwängt. Eine lange Serie von Variationen eines begrenzten Formenkanons in einer geradezu experimentellen Anordnung.
Nur logisch, dass Johannes Metten seine Formen auch gebaut hat, als „Farbige Objekte“, später, wieder in Deutschland, aber ebenso leicht, heiter und gelassen wie die Zeichnungen. Denn das Warten ist kein dumpfes Brüten, ist weder Angst vor dem Kommenden noch Langeweile, kein Erwarten von etwas Bestimmtem, auch kein vorsichtiges Abwarten, sondern im Grund die einfachste Form der Existenz. Ich bin. Ich warte. Und es wird etwas kommen.
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