"Ich durchsuche Feldcharakter"
Die Aktion bei Joseph Beuys als Erweiterung des Kunstbegriffs ins Publikum hinein
Vortrag auf dem Symposium "Tadeusz Kantor, Deutschland und die Schweiz" Krakau, 8.-11. Dezember 2005 (Veröffentlichung vorgesehen Ende 2006)
Es ist ein ebenso wagemutiges wie spannendes Unterfangen, zwei Künstler mit derart komplexen Werken wie Beuys und Kantor miteinander in Beziehung zu setzen. Zumal es - soweit bisher bekannt - von keinem der beiden dezidierte Äußerungen über den jeweils anderen gibt, zumindest nicht in der Literatur, obwohl man dies durchaus hätte erwarten können. Wir gehen von einer kurzen Begegnung der beiden 1973 in Edinburgh aus. Aber auch wenn die tatsächliche Bekanntschaft der beiden nur zufällig und vielleicht sogar unerheblich war, ihr hinterlassenes Werk provoziert geradezu eine gemeinsame Betrachtung, schon auf der Oberfläche. Es wird von ,Affinität' gesprochen, auch von ,Inspiration'. Was kann das bedeuten? Ein vergleichbarer künstlerischer Ansatz? Beiderseitiges Interesse an Grenzüberschreitungen und dem Verlassen der traditionellen Kunstinstitutionen? Vorlieben für dieselben Methoden in Produktion, Proklamation, Provokation? Also ähnliche Positionen innerhalb der Kunstentwicklung des 20sten Jahrhunderts, in ihren beiden Heimatländern und darüber hinaus? Daher womöglich eine gleich große Intensität ihrer künstlerischen Nachwirkungen? Parallele Prozesse?
Diese Fragen sind hochinteressant, aber da ich kein Kantor-Kenner bin, kann ich nur eine Seite präsentieren: Joseph Beuys. Ich betrachte zudem ausschließlich eine Werkgattung im umfangreichen Schaffen dieses Künstlers: Die Aktionen. Sie sind einerseits die wichtigste, weil substanziellste und komplexeste Äußerungsform des Künstlers Beuys, und das heißt auch die unmittelbarste Realisation seines Kunstbegriffs, darüber besteht kein Zweifel. Andererseits bieten gerade sie sich hier zur Analyse an, denn es ist eine ,theatralische' Kunstform: zeitgebunden, raumgreifend, körperbetont, dem Publikum zugewandt, Erlebnis und Emotion ansprechend. Ich denke, auf dieser Ebene ist die Affinität zwischen Beuys und Kantor am ehesten aufzuspüren. Zbigniew Makarewicz nannte Beuys' Aktionen in einem Gespräch ,Ein-Mann-Theater'. Das ist zumindest eine Arbeitshypothese.
Elemente der Aktionen
Was ich hier versuchen will, ist eine kurze strukturelle Analyse der Aktionen von Beuys. Welche Materialien benutzt er? Welche Bedeutung hat die akustische Dimension? Wie bringt er seine Person, seinen Körper als Akteur ein? Wie sehen die von ihm bespielten und geschaffenen Räume aus? Welcher Zeitstruktur folgen die Aufführungen? Gibt es ein gemeinsames Auftreten mit anderen Akteuren? Welche Rolle weist er dem Publikum zu? Welche Bezüge haben die Aktionen oder Elemente daraus zu anderen Werkgruppen, also zu den etwa 20.000 Zeichnungen, den Objekten, Rauminstallationen, Multiples und den öffentlichen Auftritten als Lehrer und Politiker. Parallel dazu werden wir die Grundzüge seines erweiterten Kunstbegriffs und der plastischen Theorie berühren. Ich stütze meine Analyse vor allem auf vier Filme, die zwischen 1968 und 1981 entstanden sind, zwei davon aus Aktionen von Beuys selbst, und zwei aus Filmen, die Freunde mit ihm gemacht haben: Eurasienstab (1968), Soziale Plastik (Lutz Mommartz, 1969), Celtic (Hans Emmerling, 1971) und Beuys (Werner Nekes und Dore O., 1981).
Im letztgenannten Film spricht Beuys folgenden Text: "Der in der Moderne grassierende Begriff von 'visual arts' ist ja ein Symptom für die Verkürzung der Wahrnehmungskategorien innerhalb der menschlichen Kreativität im ganzen. Ein anthropologischer Kunstbegriff - und ich habe ja nachgewiesen beispielsweise in der Theorie der Plastik, dass man eine Plastik hört, bevor man sie sieht, dass also das auditive Element zur Wahrnehmung bildender Kunst durchaus (und nicht nur gleichberechtigt) dazugehört - bringt einen ja in die Aufgabenstellung, den Kreativitätsbegriff nach allen Seiten zu erforschen, auszubreiten und anthropologisch zu begründen. Beispielsweise hat man es beim menschlichen Kreativitätspotential im ganzen natürlich durchaus nicht nur mit den Erkennungskriterien im Denken zu tun, also beim Formpol, könnte man sagen, sondern man hat es zu tun mit den Empfindungskategorien in der seelischen Mitte, also mit dem bewegenden Element. Und man hat es durchaus zu tun mit dem Willenspotential im menschlichen Willen. Erst eine solche Auslegung des menschlichen Kreativitätspotentials, zunächst in der Dreierposition und in den Zusammenhängen von Willen, Gefühl und Denkkategorie, bringt einen in die differenziertere Position, auch über den Sinneszusammenhang des Menschen nachzudenken und dann festzustellen, dass beispielsweise das Sehen, der Sehsinn, der Hörsinn, der Gleichgewichtssinn, der architektonische Sinn, der haptische oder der Tastsinn fortzudenken ist in den Gefühlssinn, den Willenssinn, den Denksinn und in noch viele andere noch zu entwickelnde Sinne."
Ich will über Aktionen sprechen, und womit beginne ich? - mit Bewegungslosigkeit, Nicht-Aktion, Stillstand. Welche Elemente sind dabei festzuhalten?
1) Es handelt sich in Beuys Aktionen ohne Zweifel um Hinwendungen an ein Publikum, ein tatsächlich vorhandenes oder eines, das bei der Betrachtung der Filmaufnahme angenommen wird. Im Fall von Eurasienstab wurde die Aktion in einer Galerie in Antwerpen zunächst vor Publikum durchgeführt, danach noch einmal nur für die Filmkamera wiederholt. Die Aktion Celtic + ~~~ fand mitten im Publikum statt. Celtic + ~~~ beruht wie auch Beuys auf den Ideen der Filmemacher, die den Künstler in eine bestimmte ausgesuchte Situation im Studio gestellt haben. Es handelt sich also nicht um regelrechte Beuys-Aktionen, und sie werden in der Literatur auch komplett verschwiegen. Dennoch agiert Beuys in dem ihm eigenen Sinn: Er versucht, Kontakt aufzunehmen. Das eine Mal stumm, nur durch Blicke, das andere Mal vom Zuschauer abgewandt, aber eloquent monologisierend.
2) In allen Fällen ist die eigene Präsenz des Künstlers mit Haut und Haar, Stimme und Augen, Geist und Körper zentrales Element der Szene.
3) Mit Ausnahme von Beuys kann man die Szenen als Zeitstau, als angehaltene Zeit oder auch als gedehnte Zeit auffassen. Beispielsweise steht Beuys in Celtic +~~~ über 50 Minuten in starrer Haltung inmitten des Publikums. Zeit wird hier als Gestaltungsfaktor eingesetzt, wobei dem Publikum ein hohes Maß an Geduld und Aufnahmebereitschaft abverlangt wird. Man kann aber selbst an den Gesichtern der Zuschauer eine hohe Konzentration oder eine ernste Betroffenheit ablesen. Das ist beachtlich, bedenkt man, dass die gesamte Aktion zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Stunden gedauert hatte.
Das akustische Element
Ein neues Kapitel: Das akustische Element. In zwei der genannten Aktionen ist eine musikalische Begleitung in den Aktionen wahrzunehmen. Beide Male handelt es sich um Musik, die der dänische Fluxus-Komponist Henning Christiansen, ein Freund von Beuys, als Begleitung zu den Aktionen komponiert hat. Diese Form der Kooperation zwischen beiden hat es mehrfach gegeben. Bemerkenswert ist dabei, das Christiansens Musik immer vom Band über Lautsprecher abgespielt wurde. Der Musiker selbst ist hier nie live in Aktion getreten.
Eine ganz andere Form der Kooperation gab es jedoch mit dem koreanischen Fluxus- und Videokünstler Nam June Paik, zu der ich zwei Beispiele präsentieren möchte: Am 7. 7. 1978 gaben Beuys und Paik in einer Fluxus-Soirée in der Aula der Kunstakademie Düsseldorf das Klavierkonzert In memoriam George Maciunas zu Ehren des Fluxus-Pioniers George Maciunas. Dieser war im Alter von 47 Jahren gestorben. Beuys und Paik vereinbarten, das Konzert 74 Minuten dauern zu lassen - ein Zahlenspiel. Es wurde pünktlich und schlagartig nach 74 Minuten durch einen Wecker, der auf dem Flügel von Beuys stand, beendet. Beuys trägt während dieser Aktion einen Rucksack, aus dem ein kupferner Spazierstock in einer Filzrolle herausragt. Ein zweiter Stock lehnt an seinem Klavierhocker.
Nach In memoriam George Maciunas von 1978 folgte eine zweite Fassung dieses Konzerts, das 1984 mit dem Titel Coyote III in Tokio stattfand. Darin spricht und ruft Beuys ins Mikrofon: "Erfüllung geht durch Hoffen, geht durch Sehnen, durch Willen. Wollen weht im Webenden, webt im Bebenden, webt bebend, webend bindend, im Finden, findend windend, kündend." Und "Bach Meat Fleisch, Mozart Meat Fleisch, Beethoven Meat Fleisch, Schweinefleisch Schweinefleisch."
Unter den Aspekten Raum, Bühne, Ambiente, Zeitstruktur, Rolle des Publikums und Präsenz der Akteure handelt es sich bei beiden Aktionen um regelrechte Konzerte. Sie stehen damit ganz eindeutig in der Tradition der Fluxus-Events aus den 60er Jahren, die häufig ebenfalls als Konzerte tituliert wurden. Zahlreiche Musiker waren ja auch aktive Mitglieder dieser Bewegung: John Cage, Charlotte Moorman, La Monte Young, Henning Christiansen und andere. Auf die spezielle Beziehung von Joseph Beuys zur Fluxus-Bewegung will ich an dieser Stelle nicht näher eingehen, obwohl das ein interessantes Thema wäre. Aber lassen Sie mich etwas genauer analysieren, was man in den beiden Konzerten sehen und hören kann:
1) Die Instrumente: Jeweils zwei große Konzertflügel, die klassischen Instrumente europäischer Musikgeschichte, geradezu ,Könige' der Instrumente, was ihre bürgerliche Wertschätzung und ebenso ihren Verbreitungsgrad angeht. Sowohl Paik als auch Beuys haben intensiv Klavier gespielt, Beuys schätzte vor allem Erik Satie. Daher tauchen in zahlreichen Aktionen und Installationen von Beuys von Anfang an Klaviere und Flügel auf. Sie werden bespielt, präpariert, demontiert, mit Filz umwickelt oder stehen einfach stumm da. In der Aufnahme von Celtic + ~~~ haben Sie als Begleitmusik das Stimmen eines Klaviers gehört. Das rote Instrument in der eigenwilligen Form ist übrigens nicht von Beuys so konzipiert worden, sondern es fand sich unerwarteterweise hinter der Bühne in der Konzerthalle in Tokio an.
2) Die Klänge, die Partitur: In beiden Konzerten gab es - bis auf die vereinbarte Zeitdauer von exakt 74 Minuten - keine Absprache zwischen den Künstlern. Die ab und zu entstehenden Korrespondenzen sind zufällig bzw. beruhen auf der sehr gut entwickelten intuitiven Verständigung der beiden. Sie arbeiteten immerhin seit 1961 zusammen. Über das erste Konzert 1978 gibt es nur eine kurze Notiz von Beuys, die aber lediglich die Aufstellung der Flügel, die Zeitangabe von 74 Minuten und das Vorhandensein eines Weckers enthält.
In diesem Konzert hatte Paik seinen Flügel präpariert und vollführte während des Konzerts mehrere kleinere Aktionen: Spielte mit einer brennenden Kerze auf den Tasten, summte in ein Mikrofon, erzeugte allerlei ungewöhnliche Klänge mit dem Instrument. Beuys hingegen improvisierte auf dem Klavier in gewöhnlicher Art und Weise. Er fügte allerdings mehrere Störgeräusche in seinen Part ein: Ab und zu schaltete er kurz einen Kassettenrekorder ein, von dem für kurze Momente nicht identifizierbare Sprachgeräusche abgespielt wurden. Des weiteren fiel der eine an den Hocker gelehnte Spazierstock öfter mit einem metallenen Geräusch um, und Beuys hob ihn immer wieder mit der linken Hand auf.
Im Konzert von 1984 in Japan ist die Verteilung der Rollen fast umgekehrt, ebenfalls wieder ohne vorherige Absprache. Paik spielt eher konventionell, während Beuys keine einzige Taste des bereitgestellten Flügels drückt. Er demonstriert eine Sprachaktion, das sogenannte öö-Programm.
Funktion der Sprache
1964 hatte Beuys dieses akustische Element in einer seiner ersten Aktionen eingeführt. In der Aktion Der Chef lag er über mehrere Stunden bewegungslos in eine Filzdecke eingehüllt auf dem Boden der Galerie und ließ über Mikrofon und Lautsprecher lediglich unartikulierte Laute, die an Tierstimmen erinnerten, erklingen. Drei Jahre später, 1967: Als Professor an der Kunstakademie in Düsseldorf stellte er sich bei einer Immatrikulationsfeier mit einer Axt in der Hand vor die versammelten Studenten und Dozenten hin. Er hielt jedoch keine wohlgesetzte und ermahnende Rede zur Eröffnung des Semesters, sondern hustete, pfiff, zischte und röhrte 10 Minuten lang über das Mikrofon. Dadurch und durch die Axt erinnerte er daran, dass Sprache ein Spaltungsprozess der Laute und Denken ein Spaltungsprozess der Begriffe ist.
Noch ein Wort zu den Texten, die Beuys 1984 in Coyote III in Tokio ins Mikrofon rief. Der erste: "Erfüllung geht durch Hoffen usw." entstammt, leicht verändert, einer Sprachübung, die Rudolf Steiner, Gründer der Anthroposophie, in seinen dramatischen Kursen verwendete. Im Deutschen schwingt dieser Text einerseits in einer Klangmalerei mit melodischer Struktur, andererseits enthält er eine poetisch zugespitzte Aussage, die einem philosophischen oder religiösen Kontext zugehört. Auf die intensive Beschäftigung von Beuys mit Rudolf Steiner sei an dieser Stelle nur kurz hingewiesen.
Der zweite Text: "Bach Meat Schweinefleisch usw." ist erheblich provokanter. Beuys sagt dazu selbst: "Ich habe die ganze traditionelle Musik diffamiert. ... Die Namen hat man aber nicht gehört. ... ich wollte diese Leute nicht beschimpfen, sondern transportieren, dass die ganze klassische Musik konsumiert wird wie Schweinefleisch."
Beuys' Interesse für Akustisches findet sich in den Zeichnungen und in zahlreichen Objekten wieder: Immer wieder sieht man Darstellungen von Ohrmuscheln, Gehörschnecken, Mund- und Zungenbewegungen, Schallwellen. Und die Zeichnungen selbst - die Beuys häufig im Laufe von Vorträgen und Diskussionen, oft auf Schiefertafeln, anfertigte - sind für ihn interessant als ,Spracherweiterung', als "Versuch, über die Usurpation von Sprache durch Kulturentwicklung und Rationalität hinauszukommen". So sind Sprechen und Hören auch umfassender zu begreifen, nämlich als universale Klangwelt vor oder jenseits der Verbalisierung,
...womit die Funktion der Sprache als Informationsträger keineswegs ausgeblendet wird. Die Zuhörer sollen durchaus rational begreifen, was Beuys sagt, wenn er spricht. Er selbst verstand sich als Sender, als Programmierer, als Revolutionär. Über die Rolle des Revolutionärs sagt er: "Er kann die Information durch die physische Seite der Sprache transportieren. Er muss durch die Kraft, die hinter der Leiblichkeit liegt, die Leiblichkeit auch seiner Umgebung bewegen, mit dem Luftstrom, der durch die Luftröhre bewegt wird, durch den Kehlkopf gepresst wird, und in weitere Sprachorgane (Zunge, Gaumen, Zähne, Mundraum) gelangt. In diesen Luftstrom muss er etwas hinein skulpturieren, was durch den Empfänger exformiert werden muss."
Die Stimme hält Beuys für die "unmittelbare Substanz für die Plastik aus Denkformen", und die Sprache die "erste Sorte von Skulptur". Beuys forderte, man müsse den Gedanken betrachten "wie ein Künstler sein Werk, das heißt: auf seine Form, auf seine Proportioniertheit, auf seine Kraft." Der Mensch - und man kann hier schon sagen: jeder Mensch - ist also ein Bildhauer der Sprache. An den Gedanken der Mitmenschen zu arbeiten, ist die Arbeit eines Bildhauers. Dann sind Sprechen und Hören Teil einer Skulptur, und zwar einer beweglichen, und das Ohr ist ein Wahrnehmungsorgan für Bildhauerei.
Requisiten
Noch einmal zurück zu den beiden Konzerten, vor allem zu In memoriam George Maciunas: Wir sehen mehrere Requisiten, die Beuys mit sich führt: Er trägt einen Rucksack, den man einfach als Ausrüstungsgegenstand eines Wanderers auffassen kann. Betont wird damit das allgemeine Bewegungselement. Er als Künstler ist auf Wanderschaft, jedes Werk, jede Rast wird als temporär, als vorläufige Zwischenstation betrachtet, nach der die Bewegung weitergeht, unendlich und ohne je ein abschließendes Ziel zu erreichen. So betrachtet Beuys sein gesamtes, eigenes Werk, und so sieht er die Arbeit des Menschen überhaupt. Beuys sagt: "Ich wollte die Kunst überhaupt erreichen. Wir haben die Kunst noch nicht erreicht." Der damit ausgedrückte Prozess- und Aufforderungscharakter bedeutet eine Absage an die ,Kunst der Kunstwerke'. So wie das Bewegungselement der Kunst schon im Namen der Fluxus-Bewegung auftaucht, ist es auch ein Schlüssel für den provokant unschönen, ungeformten, anscheinend unfertigen Charakter vieler Arbeiten. Jedes Werk hat vorläufigen Charakter. Wirklichkeit nimmt es erst in der geistigen Auseinandersetzung an. "Ich durchsuche Feldcharakter", ein Ausspruch, mit dem Beuys seine eigene Arbeit charakterisierte, hat genau diese Bedeutung, im Sinne von: 'Ich durchsuche die Eigenschaften von Feldern - Spannungsfeldern, elektrischen Feldern, Arbeitsfeldern - und zeige, was ich auf dem Wege gefunden habe.'
Damit ist ein ganzes philosophisches Universum angesprochen, das weit über eine ästhetische Theorie hinausgeht, übrigens auch weit über die einfache Fluxus-Forderung "Kunst = Leben".
Auch die Spazierstöcke verweisen auf den ,wandernden Menschen'. Aber in Ihnen steckt noch mehr. Wir kommen damit auf den Aspekt der Materialien, die Beuys in seinen Aktionen verwendet, bei denen ich mich auf die Aktionen Eurasienstab von 1968 und I Like America and America Likes Me von 1974 konzentriere. Ich möchte einzelne Elemente daraus in ihrer Beziehung zu Beuys' Plastischer Theorie erläutern, die eine Theorie der Aktion, der Bewegung ist.
Fett, Filz und die Theorie der Plastik
Der plastische Vorgang besteht grundsätzlich aus drei Elementen, die, in ganz allgemeinen Begriffen ausgedrückt, so lauten: Unbestimmtheit - Bewegung - Bestimmtheit, d.h. ein Ausgangszustand, ein Veränderungsprozess, ein Endzustand. In anderen Worten ausgedrückt: Aus dem Chaos entsteht durch eine Formung eine Ordnung. Oder in energetischen Begriffen ausgedrückt: Unbestimmte Energie unterliegt einer Ausrichtung und wird zur gerichteten, strukturierten Energie. Eine Plastik ist laut Beuys das Ergebnis eines lebendigen Formungsprozesses, ist der Endzustand eines Arbeitsvorgangs, der in einer Unordnung, in einem Chaos begann. Alle drei Elemente der Plastik bleiben ständig in ihr enthalten und müssen mitgedacht werden, wenn man sie erfassen will. Der Begriff des Chaos ist für Beuys folglich positiv. Chaos ist keine zerstörte Ordnung, sondern das Ausgangsmaterial für Gestaltung. Alles kommt aus dem Chaos.
Eines der häufig von Beuys verwendeten Materialien, das Fett, macht die Theorie konkret: In flüssigem Aggregatzustand ungerichtet, richtungslos zerfließend, chaotisch, gewinnt es erkaltend eine feste Form, wird zur berühmten ,Fettecke'. Die Fettecke ist ein idealer geometrischer Körper, gebildet aus drei rechten Winkeln. Sie ist das Ergebnis des einfachsten planerischen Formungsprozesses des Menschen. Die Fettecke ist also das Symbol für die Beuys'sche Theorie der Plastik und gleichzeitig deren einfachste, direkteste Realisierung. Soweit zum Fett.
In den beiden gefilmten Aktionen gibt es noch ein weiteres Element: Filz. Ich meine zunächst die großen Winkelstücke, die Beuys im Aktionsraum aufrichtet. Filz ist ebenfalls ein organisches Material, er ist eine der ältesten vom Menschen entwickelten Textilien, und er bestand in früheren Zeiten hauptsächlich aus gepresstem Tierhaar. Filz ist ein isolierender Werkstoff. Er dient zu primitiver Bekleidung bei kaltem Wetter, denn er hält die Wärme am Körper. Außerdem isoliert er den Schall. Mit Filz, hier als steifer, auf Holz aufgezogener Filzwinkel, schafft Beuys in der Aktion Eurasienstab eine architektonische Isolation. Er baut innerhalb des Galerieraumes einen inneren Aktionsraum auf, den er auch durch andere Elemente der Aktion bezeichnet: Mit den Händen tastet er eine imaginäre Wand ab, die durch die Filzwinkel an den Ecken definiert wird. Es entsteht ein virtueller würfelförmiger Raum.
Beuys arbeitet hier mit physikalischen Kräften, vor allem der Schwerkraft. Das Gewicht des Eurasienstabes ist spürbar, wenn er mit ihm hantiert. Beuys schnallt sich außerdem eine Eisensohle unter den Schuh. Er hebt das Bein unter Kraftanstrengung, um das Magnetfeld der Erde zu spüren und spüren zu lassen, und um der Schwerkraft, die ihn hinunterzieht, etwas entgegenzusetzen. Es scheint, als ob er sich von der Bindung an die Erde lösen wolle. Auch eine Assoziation an Kufen oder Schlittschuhe ist vorstellbar, d.h. an ein Gleiten über die Erdoberfläche. Zur Beugung des Beines dient das Knie. Beuys hat in der Aktion zuvor einen Fettklumpen in der Kniebeuge zerdrückt. Fett ist das Schmiermittel, wie in Maschinen. Fett verhilft dem Knie zur Beweglichkeit, macht es geschmeidig. Auch andere Mittel hat Beuys angewandt, um das Knie zu befreien, es beweglicher zu machen: Bisweilen schnitt er an der Stelle der Kniekehlen Löcher in seine Jeans, etwa in der Art wie die Löcher über den Fingerknöcheln in Autofahrer-Handschuhen. Beuys hat einmal gesagt: "Ich denke sowieso mit dem Knie." Das Knie, weit weg vom Kopf, als bewegliches Denkorgan, das den Menschen vorwärtsbringt, auf der Erde ebenso wie im Denken. In der Aktion Celtic+~~~ und in Variationen davon bindet er sich Taschenlampen auf die Schenkel, an der Stelle der Kniekehlen, nach hinten leuchtend. Sie beleuchten den Weg - für das menschliche Denken -, aber nach hinten, d.h. in einer anderen als der gewohnten Bewegungsrichtung.
Fassen wir zusammen: die Filzwinkel als Raumbegrenzer, die Eisensohle als Verstärker der Schwerkraft, die uns am Boden hält, das Fett als Schmiermittel für das Denkorgan Knie: Beuys führt in dieser Aktion vor, wie ein Mensch um die Überwindung seiner Erdgebundenheit ringt. Das Mittel dazu ist das frei fließende, ungebundene Denken. Das Denken wird somit ebenfalls zu einem bildhauerischen Material, das einem Formungsprozess unterliegt.
Spannungsfelder, Gegensatzpaare, Polaritäten
Bei diesen Formungsprozessen kommt ein weiteres Element hinzu: Zu den Veränderungen von Fett und Wachs, zu diesen Formprozessen, gehören Kälte und Wärme als notwendige konstituierende Bedingungen. Wärme entspricht dem chaotischen, fließenden Ausgangszustand, Kälte dem geformten, erhärteten Endzustand. Wärme und Kälte sind die zwei Pole innerhalb des plastischen Prozesses. Sie sind als Gegensatzpaar, als Spannung oder als Magnetfeld regelmäßig in den Arbeitsergebnissen von Beuys sichtbar und mitgedacht, werden häufig auch benannt und dienen als Beschreibungskategorie auch für alle möglichen anderen Formungsprozesse, z.B. auch gesellschaftliche oder geistige. Beuys sagt: "Es kommt auf den Wärmecharakter im Denken an." Welche neue Richtung muss das befreite Denken annehmen?
Dazu komme ich auf das dritte in dieser Aktion verwendete Material zu sprechen: den Eurasienstab, der dieser Aktion den Titel gab. Ich nannte eben Wärme und Kälte als Gegensatzpaar. Andere Gegensatzpaare, die diesen beiden Polen analog zugeordnet werden können, sind z.B.
organisch - anorganisch
Natur - Artefakt oder auch Natur - Geist
Mythos - Gegenwart
Magie - Methode
Intuition - Intellekt
Weisheit - Wissen
Leben - Tod
weiblich - männlich.
Eine weitere Dimension im Denksystem von Joseph Beuys ist der Gegensatz Westen - Osten. Er verstand diese Begriffe sowohl im philosophischen als auch im politischen Sinn. An dieser Stelle tritt eine Utopie zutage, die ,eurasische Utopie', eine Vision der Ganzheit. Der Osten, also Asien, verkörpert für Beuys das Gefühl, das Triebhafte, Dunkle, die Wärme, den inneren Reichtum. Der Westmensch verfügt dagegen über eine weit entwickelte Rationalität, die als Technokratie aber andere menschliche Qualitäten, eben die des Ostmenschen, verdrängt hat. Beuys geht es um die Vereinigung dieser beiden Prinzipien. Die Rationalität des Abendlandes verlangt nach der Irrationalität des Orients. Aus Ratio und Intuition gemeinsam speist sich die Kreativität und das neue Denken. Dieser Gedanken ist in den unterschiedlichsten Formen und Abstraktionsgraden im Werk von Joseph Beuys wiederzufinden. Viele Zeichnungen sind unter diesem Aspekt zu sehen wie auch viele plastische Objekte.
Das prägnanteste materielle Objekt mit dieser Bedeutung ist der Eurasienstab. Er ist aus massivem Kupfer, also einem besonders leitfähigen Material, und am Ende gebogen. Er hat also gewissermaßen zwei Richtungen und verkörpert so den ,Hauptstrom' - auch ein Begriff von Beuys -, der in beide Richtungen fließt, von West nach Ost und umgekehrt.
Das Kupfer und der Eurasienstab also stehen für Energieübertragung. Dem Eurasienstab begegnet man nicht nur in der hier betrachteten gleichnamigen Aktion, sondern in vielen anderen Arbeiten von Beuys, z.B. auch in der Aktion I Like America and America Likes Me, hier in Form eines Spazierstocks. Diese Performance von 1974, die in einem mehrtägigen Zusammenleben mit einem Coyoten bestand, dreht sich ebenfalls um das Thema ,Eurasia'. Die USA waren für Beuys das Land, das am weitesten die von ihm kritisierten Westprinzipien entwickelt hatte. Trotz vieler Einladungen zu Ausstellungen weigerte er sich, solange die Amerikaner Truppen in Vietnam hatten, in die USA zu reisen. Erst 1974, und zwar mit einer Vortrags- und Diskussionsserie, nicht mit einer Ausstellung, thematisierte er die USA. Der Titel war The Energy Plan for the Western Man. Im selben Jahr 1974 kam er nach New York, begegnete hier aber nur einem einzigen Lebewesen, eben einem Coyoten.
Coyote
Analysieren wir wiederum die Elemente und Materialien der Aktion I Like America and America Likes Me. Der Filz als Isolator wurde schon angesprochen. Hier hüllt er Beuys auf seiner Fahrt zum Coyoten ein, isoliert ihn von allen Menschen, und wird schließlich im Laufe der Tage von dem Tier zerfetzt. Durch den Filz wird ein direkter Kontakt zwischen Mensch und Tier hergestellt.
Was hat Beuys am Coyoten gereizt? Dazu muss man wissen, dass der Coyote den Ureinwohnern von Amerika, den Indianern, als heiliges Tier gilt. Die nordamerikanischen Indianermythen erzählen von einer lange zurückliegenden Zeit, in der die Tiere wie Menschen waren und alle Lebewesen miteinander sprechen konnten. Im gemeinsamen Gehalt der zahllosen Coyoten-Geschichten tritt dieses Tier als ,Transformer' auf, als Agent, der Ordnung ins Chaos bringt und Chaos in die Ordnung. Es ist der Geist der Unordnung, ein Feind aller Grenzen, ein amerikanischer Zeus, Prometheus, Orpheus und Hermes in einer Person. Die Apachen sagen, dass es der Coyote war, der den legendären Häuptling Geronimo gelehrt hat, sich unsichtbar zu machen.
Der Coyote stammt vom altsibirischen, eurasischen Steppenwolf ab, der irgendwann zwischen 12000 und 50000 Jahren vor unserer Zeitrechnung über die Behringstraße aus Sibirien nach Nordamerika eingewandert ist, so wie auch die nordamerikanischen Indianer. Der Coyote brachte das altasiatische Wissen der Schamanen mit. Die Menschen als seine Begleiter verbreiteten es mit ihm über den ganzen Kontinent.
Aber noch ein anderer Aspekt im Schicksal dieses Tieres ist wichtig: Der Coyote war einer der größten Ausrottungsaktionen der Geschichte ausgesetzt. 1914 setzte der amerikanische Kongress zum ersten Mal Kopfprämien für ermordete Coyoten aus. Seitdem müssen ungefähr 6 Millionen Tiere umgebracht worden sein: durch Gift, Fallen, Jagd vom Flugzeug oder vom Jeep aus und viele andere perfide Tötungsmethoden.
Die westliche Zivilisation musste allerdings schließlich zugeben, dass der Coyote den Überlebenskampf gewonnen hat. Die Tiere verlagerten ihre Territorien aus den Wäldern von Maine in die Stadtparks von Los Angeles, aus Alaska in die Berge von Guatemala. Mythologisch und biologisch gesehen, ist der Coyote also ein Überlebender und ein Paradebeispiel für den evolutionären Wandel.
Die amerikanischen Indianer und ihr Tier, den Coyoten, sah Beuys also als Vertreter des Ostens mitten im ,westlichsten' Land. "Wenn man weit genug nach Westen geht, wird der Westen zum Osten". Beuys sagte: "Mit dem Coyoten ist eine Rechnung zu begleichen, nur dann kann das Trauma aufgehoben werden." Und so kam Beuys von der sprachlichen Kommunikation - derjenigen in seiner erwähnten Vortragsreise einige Monate vorher - zu einer nichtsprachlichen Kommunikation mit dem Coyoten, in der Sprache der Aktion, der körperlichen, nicht gesellschaftlichen oder nicht gesellschaftsfähigen Sprache, einer Sprache, die einen anderen Energieaustausch ermöglicht. Auch hier handelt es sich um eine ,Sprache ohne Wörter', wie sie oben unter dem Stichwort Akustik erwähnt wurde.
Wenn Beuys also in den USA ausschließlich diesem Tier seine Aufwartung macht, so betont er damit noch einmal die für ihn notwendige Verbindung des Ostens mit dem Westen. Übrigens befand sich in dem Käfig, in dem die beiden zusammenlebten, immer auch ein Stapel des Wall Street Journal, als Symbol des westlichen Privatkapitalismus. In der Regel urinierte der Coyote darauf, wie um zu sagen: "Alles, was ein Teil von Amerika sein will, ist Teil meines eigenen Territoriums."
In dieser Aktion verwandelt sich Beuys selbst in eine Skulptur mit unentwegt veränderten Formen in Kommunikation mit dem Coyoten. Der Eurasienstab gehört dabei zu ihm wie ein Heiligenattribut, es ist der Spazierstock oder Wanderstab, der ihn auf seinem Weg begleitet. Wir finden noch weitere Elemente aus seiner Theorie der Plastik in dieser Aktion: Auf der akustischen Ebene gibt es eine Polarität zwischen Chaos und Ordnung: Ab und zu wird ein Turbinenlärm wie von einem Motor eingespielt, physikalisch gesprochen, ein chaotischer Klang, der aus vielen Frequenzen zusammengesetzt ist. Der Toningenieur spricht von ,weißem Rauschen'. Dem ist entgegengesetzt der klare Klang der Triangel, die Beuys mit sich führt und manchmal anschlägt: ein heller, kristalliner, vielleicht auch eiskalter Klang. Es wurde auch die Entsprechung zwischen der dreieckigen Oberfläche der Fettecke und der Dreiecksform des Musikinstruments angesprochen. Beides sind menschliche Erzeugnisse auf der Seite des Formpols, würde Beuys sagen. Weiterhin gibt es eine Taschenlampe, die, wie oben angedeutet, als Zeichen des zielgerichteten Denkens den Weg erleuchtet.
Soweit in aller gebotenen Kürze einige Hinweise zur Theorie der Plastik, zu den künstlerischen Materialien von Beuys und zur Bedeutung der Aktionen. Ich verstehe meinen Beitrag als Einblick in das sehr komplexe Schaffen von Joseph Beuys, bei dem ich mich auf die ,theatralischen' Aspekte beschränkt habe. Ich hoffe, dass dennoch genug Material vor uns ausgebreitet ist, dass eine vergleichende Betrachtung mit dem Werk Tadeusz Kantors zu interessanten neuen Erkenntnissen, weiteren Fragen und vergleichenden Forschungsarbeiten führt.
Im Text genannte Filmaufnahmen:
Eurasienstab (Aktion von Joseph Beuys, Regie: Henning Christiansen, 1968).
Soziale Plastik (mit Joseph Beuys, Regie: Lutz Mommartz, 1969).
Celtic + ~~~ (Aktion von Joseph Beuys, Regie: Hans Emmerling, 1971).
Beuys (mit Joseph Beuys, Regie: Werner Nekes, Dore O., 1981).
I Like America and America Likes Me (Aktion von Joseph Beuys, Regie: Hemut Wietz, 1974/78)
In memoriam George Maciunas (Aktion von Joseph Beuys und Nam June Paik, Bildregie: Gunther Gude, 1978)
Coyote III (Aktion von Joseph Beuys und Nam June Paik, 1984).
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