"Was sollen wir denn malen?" - "Vielleicht die ganze Welt!"
[Der folgende Text entstand im Juli 2003 während eines eintägigen Malkurses mit Laien im Rahmen der Gesundheitsfürsorge. Die Malerin Christiane Schauder hatte die praktische Leitung. Der Text entspricht der Eröffnungsrede zur Ausstellung der an diesem Tag in der Gruppe entstandenen Arbeiten. Fotos: Minas]Ein Garten voller leerer, weißer Leinwände
Womit beginnen? Mancher verlässt sich einfach auf die Farbe, vielleicht die Lieblingsfarbe. Andere haben Motive im Kopf, Ideen, Pläne: Blumen, Landschaften. Vielleicht auch ganz abstrakte Farblandschaften. Einer misst die Fläche aus, zeichnet vor, weicht nicht ab bis zum Ende. Ein anderer macht sich Schablonen. Der Dritte beginnt in der Mitte, der Vierte am Rand.
Einige fangen sofort an, andere zögern eine Weile. Tastende Pinselstriche von Fläche zu Fläche, in kleinen Schritten, oder schon ganz groß und mutig.
Beziehungsprobleme
Der erste Schritt ist getan, die erste Farbe gesetzt, ich kann nicht mehr zurück. Der zweite Schritt, die zweite Farbe: Und plötzlich passiert da etwas Neues. Zwei Farben wie zwei Menschen: die harmonieren oder sie streiten sich, die verbinden sich miteinander, verschmelzen, oder sie stoßen sich ab, kämpfen. Und schon kommt die dritte dazu, es wird kompliziert: "Beziehungsprobleme"....
Was passiert denn bei den anderen?
Blicke nach rechts und links, oder besser gleich drauflosmalen, ohne sich umzusehen! Am Anfang viel Gerede über Farbenmischen, Technik, Tipps und Tricks.
Dann wird es ruhiger, und manchmal herrscht minutenlange Stille. Jeder ist irgendwann mit seinem Bild allein.
Noch ein großer Schritt
Plötzlich wird einer ganz mutig, gießt Wasser auf die Leinwand, wischt und tupft, lässt es tropfen, entdeckt, dass es außer Pinseln noch andere Methoden gibt, die Farbe auf die Leinwand zu bringen. Das ist doch ganz was anderes, so richtig große Flächen zu füllen, mit dem nassen Tuch, als mühsam mit Pinselstrichen einer nach dem anderen!
Kurz vor Schluss
Jetzt ist die Leinwand schon fast ganz bedeckt, kein Weiß mehr zu sehen, Feinarbeit ist gefragt, Korrekturen. Und plötzlich erste Zweifel, am Bild, an mir, an meinen Ideen... Aber erst mal Pause Machen, Essen, Ausruhen, Wegsehen.
Neuer Anfang
Wieder vor dem Bild. Und da schaut es plötzlich zurück, blickt mich an, fragt mich etwas, spricht mit mir. Das hat sein Eigenleben, will gepflegt werden und: weitergemalt. Das hat seine Bedürfnisse, fordert mich, lässt nicht mehr alles mit sich machen.
Vor allem: Mein Bild sieht ganz anders aus als ich es mir je vorgestellt hatte. Wie ein Mensch, den ich allmählich besser kennen lerne und der vielleicht ganz anders ist als beim ersten Eindruck.
Das Ende ist genauso schwer
Wann soll ich aufhören, wann ist das Bild fertig? Wenn ich jetzt noch lange weitermale, geht das Bild kaputt. Wenn wir noch weiterreden, reden wir auch uns kaputt. Bilder brauchen ihre Ruhe, genau wie wir Menschen, wollen irgendwann in Ruhe gelassen werden. Aber manche Bilder brauchen länger. Auch sie wollen zu Ende gemalt werden. Bangemachen gilt nicht!
Kein Bild mehr?
Man kann das Reden mit dem Bild auch irgendwann gewaltsam beenden, es zum Schweigen bringen. Das kann weh tun, nicht nur dem Maler, sondern auch uns, die wir das Bild vielleicht geliebt haben. Aber ist ein übermaltes, unsichtbar gewordenes Bild denn wirklich verschwunden?
Wir haben es doch alle noch im Kopf und im Herzen. Wir können es nicht mehr mit den Augen sehen, aber es ist dennoch da, für immer.
Neue Bilder!
Erinnern Sie sich noch an heute Morgen, als der Garten voller weißer Flächen war, wie mit weißer Wäsche zugehängt? Und heute Abend, nach getaner Arbeit? Unsere Welt ist ein Stück farbiger geworden. Wir alle haben dieser Welt neue Bilder hinzugefügt. Es gibt jetzt ein kleines bisschen mehr zu sehen, etwas, das es vorher nicht gab.
Kunst ist nicht, die Welt nur zu sehen. Kunst fügt der Welt ihre eigenen Bilder hinzu.
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